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       # taz.de -- Russland-Forscher über die Ukrainekrise: „Wir schlittern in einen Krieg“
       
       > Nicht Putin habe die Ukrainekrise ausgelöst, sondern der Wunsch der USA,
       > die Ukraine in die Nato zu holen, meint der Russlandforscher Stephen
       > Cohen.
       
   IMG Bild: Ukrainischer Soldat in der Nähe von Slawjansk. Cohen sieht in der Ukrainekrise „ein kolossales Scheitern der US-Außenpolitik“
       
       taz: Herr Cohen, US-Präsident Barack Obama spricht jeden Tag über die
       Ukraine und Russland. Und in Kiew geben sich CIA-Chef John Brennan,
       US-Außenminister John Kerry und Vizepräsident Joe Biden die Klinke in die
       Hand. Wie wichtig ist die Ukraine für die USA? 
       
       Stephen Cohen: Die Ukraine ist so wichtig für die politische Führung der
       USA, dass sie einen Krieg mit Russland riskiert. Warum das so ist, lässt
       sich nur sehr schwer erkennen. Denn hier findet keine öffentliche Debatte
       über diese Krise statt. Dabei befinden wir uns an einem historischen
       Wendepunkt. Letzten Sonntag hat die New York Times berichtet, dass Obama im
       Wesentlichen einen neuen Kalten Krieg gegen Russland deklariert und sich
       die alte Politik der Eindämmung zu eigen gemacht hat.
       
       Was ist die offizielle Erklärung? 
       
       Sie lautet, dass die arme Ukraine nur Demokratie und ökonomischen Wohlstand
       wollte – durch das europäische Partnerschaftsangebot an den damaligen
       Präsidenten Wiktor Janukowitsch vom November. Und dass Russland das
       verhindert habe. Manche meinen, dahinter stecke, dass Wladimir Putin die
       alte Sowjetunion zurückhaben will. Andere, dass er zu Hause Macht verliere
       und einen Krieg und Nationalismus brauche, um sich ein Schicksal wie
       Ägpytens Präsident Husni Mubarak oder Janukowitsch zu ersparen. Aber alle
       meinen, dass Amerika Putin stoppen muss. Weil er anderenfalls auch in die
       baltischen Staaten und nach Polen gehen würde.
       
       Was ist daran so anders als in Deutschland? 
       
       In Deutschland gibt es eine Debatte und zumindest drei ehemalige
       Bundeskanzler, die die EU-Politik gegenüber Russland und der Ukraine
       kritisieren. Da sind Schröder und Schmidt. Und der Interessanteste ist
       Kohl. Er kennt die Geschichte der deutschen Vereinigung. Er weiß, welche
       Zusagen es damals an Russland gab. Unter anderem, dass die Nato nicht
       expandiert. Auch er hat die EU kritisiert. Und damit Merkel. In Amerika
       äußert kein Expräsident Kritik. Wo ist Bill Clinton? Er hat in den 90er
       Jahren die Freundschaft mit Russland versprochen. Er schweigt. Wo ist Jimmy
       Carter?
       
       Wie erklären Sie das Schweigen der US-amerikanischen Elite? 
       
       Beide Parteien – Demokraten und Republikaner – sind tief verwickelt. Seit
       den 90er Jahren haben Clinton, Bush und Obama eine Politik gemacht, die
       Russland umzingelt.
       
       Sie betrachten die Russlandpolitik der USA der letzten 20 Jahre als
       gescheitert? 
       
       Die Ukrainekrise ist ein kolossales Scheitern der US-Außenpolitik. Sie hat
       uns an den Rand eines Krieges gebracht. Und alle US-Präsidenten seit
       Clinton sind Komplizen.
       
       Sehen Sie einen Zusammenhang mit der US-amerikanischen Umorientierung nach
       Asien? 
       
       Obamas Japan-Politik scheint gescheitert. Die westlichen Reaktionen auf die
       Krim und die Ukraine haben China näher an Russland gebracht. Ich würde
       sagen, wenn sich irgendwer zu Asien hinwendet, dann ist es Putin, nicht
       Obama.
       
       Spielt Edward Snowden eine Rolle? 
       
       Wenn eines Tages die Geschichte geschrieben wird, wie wir ganz nah an einen
       Krieg mit Russland gekommen sind, müssen wir viel weiter zurückgehen.
       
       Wie weit? 
       
       Es beginnt in den 90er Jahren, mit der Entscheidung, die Nato von
       Deutschland aus bis an die russische Grenze zu bewegen. Die Nato ist jetzt
       im Baltikum. Im November 2013, als das Angebot der EU an die Ukraine
       abgelehnt wurde, sehen wir zwei Dinge: die Edward-Snowden-Affäre und die
       Olympischen Spiele von Sotschi. Beide waren zentrale Teile der
       amerikanischen Berichterstattung über die Ukrainekrise. Aber die Spiele
       sind vorbei. Und Snowden ist nur eine Fußnote. Er wäre nicht in Russland,
       wenn wir ihm nicht den Pass abgenommen und lateinamerikanische Länder unter
       Druck gesetzt hätten. Und ohne die Ukrainekrise wäre Snowden heute
       vermutlich in Deutschland.
       
       Was also ist der Plan hinter Obamas Russlandpolitik? 
       
       Die Ukraine in die Nato bringen. Darum geht es die ganze Zeit. Und Merkel,
       die 2008 gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine war und die Russland
       versteht und die zumindest mit Putin reden kann – die arme Merkel ist in
       eine unmögliche Lage geraten. Wir hätten die ukrainische Situation im
       November an Merkel übergeben sollen. Sie hätte eine Lösung gefunden. Die
       Amerikaner sind viel zu ideologisch. Und Obama ist eindeutig nicht gut in
       Außenpolitik.
       
       Wenige Stunden vor der Flucht von Janukowitsch aus Kiew waren drei
       europäische Außenminister in Kiew und haben mit ihm gesprochen. Einer davon
       war der deutsche. Sind nicht auch die drei – Steinmeier inklusive – mit
       gescheitert? 
       
       Die drei hatten ein Abkommen ausgehandelt, das Janukowitsch bis Dezember
       als Präsident im Amt gelassen hätte und eine Regierung der Aussöhnung
       beinhaltete. Russland hatte nichtöffentlich zugestimmt, Geld zu geben. Es
       sah wie der beste Weg aus. Ohne Gewalt. Das Abkommen wurde von den
       Radikalen auf der Straße zerstört.
       
       Was hätten die drei europäischen Minister tun sollen? 
       
       Sie hätten den drei Typen, den ukrainischen Führern Tjagnybok, Klitschko
       und dem komissarischen Prermierminister Jazenjuk sagen können: Wenn ihr
       unsere Unterstützung wollt, müsst ihr Janukowitsch schützen und die Straße
       stoppen. Stattdessen sind sie abgehauen. Nachdem sie gescheitert waren,
       haben sie eine neue, nicht gewählte, illegitime Regierung umhegt, die nicht
       auf der Grundlage ihres Abkommens an die Macht gekommen ist. Das ist ein
       Skandal. Und sie haben die ganze Sache an den polnischen Außenminister
       übergeben. Das Mindeste, was man über den sagen kann, ist, dass er, in
       Sachen Russland ein Radikaler ist. Jetzt haben die Polen und die Radikalen
       auf den Straßen, unter denen auch Neofaschisten sind, das Sagen. Und die
       Geschichte entwickelt sich auf einen Krieg hin. Ich weiß nicht, warum
       Merkel nicht interveniert hat. Sie steht unter enormem Druck. Ich vermute,
       sie hat kapituliert.
       
       Die Bundeskanzlerin trifft am Freitag den US-Präsidenten in Washington. Es
       wird auch um die Ukraine gehen. Welchen Rat geben Sie ihr? 
       
       Ich hoffe, dass Merkel unverblümt zu Obama sagt, wie gefährlich die
       Situation ist. Und dass die USA und die EU genauso dafür verantwortlich
       sind wie Russland. Ich habe keinen Zweifel, dass sie es weiß. Sie sollte
       Obama beruhigen. Und ihm erklären, dass die Dinge, die er und Kerry sagen,
       nicht stimmen.
       
       Was stimmt nicht? 
       
       Erstens hat nicht Putin diese Krise begonnen. Es gab keine russische
       Aggression. Diese Krise begann, als die Europäische Union Janukowitsch im
       November ein Entweder-oder-Ultimatum gestellt hat. In den Protokollen des
       Abkommens ist die Nato zwar nicht explizit erwähnt, aber die
       Sicherheitsbedingungen hätten die Ukraine zu einer Art Ehrenmitglied der
       Nato gemacht. Zweitens ist falsch, dass Putin hinter allem steckt, was in
       der Ostukraine passiert. Die USA haben mehr Kontrolle über die Regierung in
       Kiew als Putin über die Aufständischen im Osten.
       
       Aber auch Putin hat die Ukraine im vergangenen Herbst unter Druck gesetzt,
       sich zu entscheiden. 
       
       Das stimmt nicht. Im Vorfeld des November haben sowohl Putin als auch
       Russlands Außenminister Sergei Lawrow Brüssel verschiedentlich gefragt:
       Warum stellt ihr die Ukraine vor eine Entweder-oder-Wahl? Und angeboten,
       mit der EU und der Ukraine einen Drei-Parteien-Mini-Marshallplan
       auszuhandeln. Putin wusste, dass eine gleichzeitige Zugehörigkeit der
       Ukraine zu einer EU-Wirtschaftsgemeinschaft und zu seiner eurasischen
       Gemeinschaft problematisch sein könnte. Aber er schlug vor, die
       Entscheidung für ein oder zwei Jahre zu verschieben. In der Zwischenzeit
       sollten EU-Wirtschaft und russische Wirtschaft in der Ukraine kooperieren.
       
       Vielen erschien das unrealistisch. 
       
       Sie können sagen, das war ein unmöglicher Weg. Oder es war ein Trick. Aber
       die Ablehnung durch Brüssel und Washington hat die Krise beschleunigt. Die
       Ukraine ist ein tief gespaltenes Land. Es mag einen ukrainischen Staat
       gegeben haben, als die Krise begann. Aber es gab immer – Geschichte, Gott
       oder Schicksal – zwei oder sogar drei ukrainische Länder: der Westen, der
       Osten und die Zentralukraine. Die Westukraine hatte immer eine Affinität zu
       Europa, die Ostukraine zu Russland. Es war ein schwerer Fehler, dieses tief
       gespaltene Land zu einer schicksalhaften Entscheidung zwischen Westen und
       Osten zu drängen. Was wir jetzt erleben, ist der Niederschlag dieses
       Fehlers.
       
       Präsident Obama ist gegen Militärinterventionen – sowohl in der Ukraine als
       auch anderswo. 
       
       Er will der Präsident sein, der die amerikanischen Kriege beendet und die
       Amerikaner nach Hause bringt. Er will nur mit Drohnen kämpfen. Er will
       keinen Krieg. Aber er verfolgt eine Politik, die dazu führt, dass ein Krieg
       möglich wird. Ein Leader, der eine Politik macht, die gegen seine eigenen
       Ziele verstößt, ist ein schlechter Leader. Dabei hatte Obama einen Partner
       in Putin, zumindest einen potenziellen Partner. Putin hat Obama in Syrien
       vor einem Krieg bewahrt, indem er Assad dazu gebracht hat, die Chemiewaffen
       zu zerstören.
       
       Sie nennen den neuen Kalten Krieg gefährlicher als den alten. Warum? 
       
       Sein Zentrum liegt nicht in Deutschland – weit weg von Russland –, sondern
       weiter östlich, direkt an der russischen Grenze. Alles ist da möglich.
       Während des ersten Kalten Krieges gab es stabilisierende Verhaltensregeln.
       Manchmal wurde eine Regel gebrochen. Zum Beispiel, als Chruschtschow 1962
       die Raketen nach Kuba gebracht hat. Aber im Allgemeinen wurden die Regeln
       beachtet. Im jetzigen Kalten Krieg gibt es keine Regeln. Es gibt lauter
       außer Kontrolle geratene Akteure.
       
       Wen meinen Sie? 
       
       Typen mit Masken, die in der Westukraine herumlaufen, wo die Situation
       genauso brenzlig ist wie in der Ostukraine. Wir haben eine illegitime
       Regierung in Kiew. Wir haben Leute in Russland, die genervt und nicht unter
       Putins Kontrolle sind. Und wir haben die Abwesenheit einer Debatte in
       Washington. Die Situation ist außer Kontrolle. Deswegen nähern wir uns
       einem Krieg. Es könnte jederzeit passieren. Die Gefahr des Krieges ist
       nicht, dass jemand einen Krieg plant, sondern dass rücksichtslose
       politische Entscheidungsträger – vor allem im Westen – eine Situation
       geschaffen haben, in der ein Krieg möglich ist.
       
       In den USA wissen die meisten Menschen nicht einmal, wo die Ukraine liegt.
       Wieso sollten sie bereit sein, wegen der Ukraine in einen Krieg zu ziehen? 
       
       Hier wusste auch niemand, wo Vietnam liegt. Oder der Irak oder Afghanistan.
       Kriege werden von Eliten gemacht, nicht vom Volk. Und die Eliten verfolgen
       oft eine Politik, die so unklug ist, dass sie in einen Krieg schlittern,
       den sie nicht antizipiert haben.
       
       Werden die Sanktionen gegen Russland etwas bewirken? 
       
       Sie werden wehtun. Aber sie werden Putins Politik nicht ändern. Falls die
       wirtschaftliche Lage in Russland so schmerzhaft wird, dass es dort einen
       Maidan gibt, sollten Sie beten. Denn Russland ist das territorial größte
       Land der Welt und hat mehr Massenvernichtungswaffen als jedes andere Land.
       Wenn sich Russland auf die Art fragmentiert wie die Ukraine, ist niemand
       mehr sicher.
       
       Traditionell bedeutet Kalter Krieg, dass sich zwei ideologisch konträre
       Mächte gegenüberstehen. Gegenwärtig haben wir das nicht. 
       
       Doch. Unsere Ideologie ist Freiheit, Demokratie, der Aufstieg des
       Individuums, ökonomischer Wohlstand, freie Märkte und ökonomische
       Integration. Russland lehnt diese Werte zwar nicht ab. Sagt aber, dass sie
       quer durch die Welt Unheil anrichten. Und dass die traditionellen Werte
       Europas nicht auf dem Individuum, sondern auf der Familie basieren und auf
       sozialen Wohlfahrtsstaaten statt auf Austerität sowie auf der Souveränität
       von Nationen. Russland sagt, dass es traditionelle Werte verteidigt und dem
       amerikanischen Regimewandel widerstehen will.
       
       Kalter Krieg impliziert auch eine globale Konfrontation. Aber in den USA
       heißt es, dass die internationale Gemeinschaft einig gegen Putin sei. 
       
       Einige der meistbevölkerten Länder der Welt stehen im Wesentlichen hinter
       Russland: China, Iran, Lateinamerika, Indien. Wir können Russland nicht
       isolieren. Dieser Kalte Krieg wird immer internationaler. Und es ist ein
       weiteres Missverständnis, wenn gesagt wird, Russland sei schwächer als die
       Sowjetunion. Der Konflikt findet an Russlands Grenzen statt. Daher ist
       Russlands Entschlossenheit sehr viel größer als die des Westens. Und wir
       dürfen nicht vergessen, dass dieser Konflikt sehr schnell atomar werden
       könnte. Die russische Militärdoktrin beinhaltet den Einsatz taktischer
       Atomwaffen, wenn das Land von konventionellen Waffen aus dem Westen
       überwältigt wird. Das würde ich an der Stelle von Obama nicht testen
       wollen.
       
       Betrachten Sie das Geschehen im Inneren der Ukraine als
       „Stellvertreterkrieg“? Wie früher in afrikanischen und asiatischen Ländern? 
       
       Die Regierung in Kiew kontrolliert nicht einmal den Westen. Auch wenn sie
       dort Unterstützung genießt. Im Osten des Landes hat sie keine
       Unterstützung. Sowohl im Osten als auch im Westen sind Kämpfer unterwegs.
       Das enthält die Gefahr von Bürgerkrieg. Wenn dieser Bürgerkrieg ausbricht,
       wird Russland wahrscheinlich im Osten eingreifen und die Nato im Westen.
       Damit kommen wir von einem Bürgerkrieg zu einem Ost-West-Krieg. Dies ist
       mehr als ein Stellvertreterkrieg.
       
       Was wäre das beste – oder am wenigsten schlechte – Ergebnis dieser Krise ? 
       
       Ein diplomatischer Weg aus der Krise ist immer noch möglich. Es gibt immer
       noch die Möglichkeit, die russischen Vorschläge vom 17. März zu verhandeln.
       Sie beinhalten Neuwahlen: nicht nur des Präsidenten, sondern auch des
       Parlaments. Und eine neue Verfassung, die einen föderalen ukrainischen
       Staat schafft. Mit den Garantien, die Putin genannt hat, von Europa, von
       Russland und von der UN. Das wäre das beste Ergebnis.
       
       Und wenn das unmöglich ist? 
       
       Dann müssen wir uns fragen, ob zwei Ukrainen besser wären als eine Ukraine
       im Bürgerkrieg. Eine Teilung der Ukraine, vergleichbar mit Deutschland nach
       dem Zweiten Weltkrieg. Aber vielleicht ist die Ukraine zu kompliziert
       dafür. Und es würde auf jeden Fall zu Bürgerkrieg führen. Der
       wahrscheinlich zu einem Krieg zwischen dem Westen und Russland führen
       würde.
       
       2 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothea Hahn
       
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