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       # taz.de -- Die Wahrheit: Stadt der Kreatinen
       
       > Ideenpanzer und Witzgashaubitzen zielen auf Wilmersdorf und Wedding: Eine
       > schreckliche Seuche sucht die Kreativen in Berlin heim.
       
   IMG Bild: Einem Berliner Kreativen läuft angesichts der „Fashion Week“ das Wasser im Mund zusammen.
       
       Gegen vier Uhr morgens befindet sich Sven-Anton Piefko, Kreativdirektor des
       Stadtmarketings Berlin, in einem schrecklichen Albtraum. Über
       Friedrichshain und Mitte kreisen Visionshubschrauber, randvoll mit
       schaurigen Wesen, die sich selbst Kreatine nennen. Sie haben die Stadt
       umzingelt und eingenommen. Ihre mit Melatoninbomben bestückten
       Raketenwerfer stehen in Brandenburg, am Müggelsee und in Potsdam.
       Ideenpanzer und Witzgashaubitzen zielen auf Wilmersdorf und Wedding. Zu
       Hunderttausenden strömen die Kreatinen in die Stadt, hohlwangig und irre
       brabbelnd.
       
       Eine Traumsequenz später hält eine mutige Filmemacherin in einem
       verborgenen Winkel der Stadt ihre Kamera auf ihn, Piefko, den letzten
       verbliebenen Nichtkreatinen. Mit von Panik gezeichneten Gesichtszügen
       stammelt der letzte Kreative in ihr Mikrofon. Immer wieder blickt er sich
       um.
       
       „Es ging damit los, dass sich die Berliner Kreativszene spaltete. Die einen
       verfielen immer mehr in einen kreativen Wahn, die anderen sprachen immer
       häufiger von der Angst, sich im Kreativen zu verlieren. Kurz darauf waren
       die ersten Künstler plötzlich verschwunden. Stattdessen saßen da welche,
       die völlig entrückt waren. Sie sahen fast genauso aus wie Kreative. Aber es
       waren Untote. Kreatine Zombies mit Ideenzwang.“
       
       Piefko wirft sich herum. Im Traum schluchzt er: „Ich bin jetzt der letzte
       noch lebende Kreative in Berlin. Alle anderen sind tot oder vegetieren in
       der Provinz, wo kreatives Leben weiterhin möglich ist. Hier in Berlin gibt
       es nur noch Schattenwesen, die ununterbrochen Schreckliches hervorbringen.
       Etwas, das lediglich so aussieht, als ob es kreativ wäre. Jede Nische der
       Stadt ist kreatiniert.“ Die Filmemacherin, die plötzlich aussieht wie
       Piefkos Mutter, herrscht ihn an: „Heul nicht. Wenn ich durch die Straßen
       von Berlin gehe, spüre ich noch immer dieses ’Berlin ist anders‘-Gefühl. Du
       bist die Hoffnung!“
       
       ## Was macht Stadtmarketing?
       
       Piefko richtet sich im Schlaf auf und schreit Richtung Zimmerdecke: „Nein!
       Genau das ist es doch. Dieses zwanghafte ’Berlin ist anders‘ ist
       selbstzerstörerisch. Es gibt einen Zwang zur kollektiven Hyperkreativität.
       Der führt dazu, dass alle ununterbrochen etwas total Hyperkreatives, etwas
       nie da Gewesenes machen. Was im Ergebnis dazu führt, dass immer mehr
       absolut Identisches dabei herauskommt. Wir mutieren. Uns geht es wie der
       Hefe in der Hefevergärung. Erst ist die Hefe produktiv, dann gerät die
       Gärung außer Kontrolle. Und am Ende verreckt dann die Hefe in ihrem eigenen
       Alkohol. Übrig bleibt nur noch hochtoxischer Müll.“
       
       Piefkos Mutter sieht jetzt aus wie Wowereit. Im Off hört man diesen fragen:
       „Aber warum sind ausgerechnet Sie übrig geblieben?“ Er zoomt auf Piefkos
       Schuh, der etwas unsicher über ein auf den Boden gesprühtes Clownsgraffito
       kratzt. „Ich glaube“, sagt dieser leise, „weil ich im Grunde der einzige
       100 Prozent Nichtkreative in Berlin war. Ich habe nicht das geringste
       Talent, originell zu sein, und ich habe in meinem Leben noch keine einzige
       Idee gehabt. Mir fehlt jegliche Vorstellungskraft. Wenn ich das Bedürfnis
       habe, mich auszudrücken, gehe ich aufs Klo.“ Wowereit schreit: „Und das
       sagt einer vom Stadtmarketing! Gibt es denn überhaupt noch Kreativität?“
       
       Ein Schluchzen durchzuckt den schlafenden Piefko: „In Berlin? Das einzig
       Kreative in Berlin sind mikroskopisch kleine ungestaltete Nischen, die die
       Kreatinen noch nicht gefunden haben. Wenn man eine kennt, darf man um
       Himmels willen mit niemandem darüber sprechen! Sonst wird auch sie
       kreatiniert. Es ist so deprimierend.“
       
       Wowereit, der plötzlich aussieht wie Sido, hakt nach: „Wirst du bleiben?“
       Piefko flüstert: „Ich bin Berlins einzige Hoffnung! Ich muss so lange im
       Verborgenen fantasielos sein, bis sich meine Vorstellungslosigkeit zu einem
       nichtgestalteten Raum verdichtet und nichtkreatines Leben wieder möglich
       wird. Beten wir, dass Berlin wieder von den Untoten erwacht. Und jetzt
       gehen Sie bitte. Das war gerade eine Gestaltungsidee. Ich bin infiziert.
       Ich muss sofort einen Vollrausch nehmen und alles vergessen. Sonst laufe
       ich Gefahr, mich selbst zu finden. Dann bin ich für immer verloren.“
       
       Mit diesen Worten fällt Piefko in einen traumlosen Schlaf. Am nächsten
       Morgen eröffnet er das Kreativmeeting des Stadtmarketings mit den Worten:
       „Berlin braucht endlich mal wieder eine ganz neue Idee.“
       
       1 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jakob Reil
       
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