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       # taz.de -- Weniger Ostern im Norden: Das Kreuz mit den Feiertagen
       
       > Weil die Reformation das Feiern umdefiniert hat, gibt’s im
       > protestantischen Norden mehr Ostermärsche und seltener frei.
       
   IMG Bild: Anfällig für politische Vereinnahmung: Der letzte gesamtdeutsche Luthertag im Lustgarten in Berlin 1933.
       
       Manche Leute sind ja neidisch auf die Bayern, weil: Die haben 13 Feiertage,
       die Nordländer dagegen nur neun, maximal zehn: Kein Mariä Himmelfahrt, kein
       Allerheiligen, kein Dreikönigstag und kein Fronleichnam – und sowohl am
       Buß- und Bet- als auch am Reformationstag wird hier brav gearbeitet:
       Verfluchter Protestantismus, sagen die. Und sie haben natürlich recht.
       
       Aber dass Protestanten weniger feiern, ist eine Plattitüde. Der Befund wird
       erst spannend, wenn man die Differenz der Festkulturen in den Blick
       bekommt, die eine erstaunliche politische Dimension hat. Und der Neid auf
       die läppischen zwei, drei Feiertage mehr, die Baden-Württemberg und Bayern
       begehen, ist Missgunst auf einem allzu erbärmlichen Niveau: Sollen sie
       doch. Sie zahlen dafür ja auch mehr in den Länderfinanzausgleich ein.
       
       Nein, wenn schon, dann lieber die Menschen früherer Zeiten beneiden: Denn
       noch bis ins 19. Jahrhundert hinein waren mehr als 100 der, so die
       Definition des Grundgesetzes, „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen
       Erhebung“ die Regel. Plus die Sonntage wohlgemerkt. Das sind viel zu viele
       – fand die Theologie. Denn die christliche Theologie war es, die,
       konfessionsübergreifend, den Kampf gegen die kirchlichen Feiertage eröffnet
       hat, den heute der Bund der Atheisten und Freidenker meint, führen zu
       müssen.
       
       In einem im 16. Jahrhundert beginnenden Crescendo, das seinen Höhepunkt
       erst Ende des 18. Jahrhunderts erreicht, haben Gottesgelehrte die Masse der
       Feste zum theologisch-moralischen Problem gemacht. Sie werte die einzelnen
       Feiertage ab, so lautet ein Standardvorbehalt. „Feiern ist nicht nöthig
       noch geboten“ stellt Luther fest, also gibt’s Party bei ihm nur mit
       schlechtem Gewissen.
       
       ## Pfui!
       
       Zumal die Festtage, das wird in protestantischen Gegenden schnell zum
       effektivsten Anti-Feier-Argument, Ausschweifungen induzieren. Also
       „aergerlich Ueppigkeit“, wie es in einem Beschluss heißt, mit dem der Rat
       der Stadt Basel schon 1527 auf einen Schlag 20 Feiertage eliminiert, „es
       sey mit Spielen, Saufen, Prassen, Hurerey, Tanzen, Hoffart und anderm, so
       den Suenden dienlich“. Pfui!
       
       Dieser „Hass gegen die Feiertage“ wäre nach der Diagnose des Früh-Marxisten
       Paul Lafargue sogar der wesentliche Impuls des Protestantismus und der
       Reformation. „Er entthronte die Heiligen im Himmel“, schreibt er in „Das
       Recht auf Faulheit“ (1880), „um ihre Feste auf Erden abschaffen zu können“.
       Alles Weitere, „die Religionsreform und das philosophische Freidenkertum
       waren nichts als Vorwände, um der heuchlerischen und gierigen Bourgeoisie
       zu erlauben, die beim Volk beliebten Feiertage verschwinden zu lassen.“
       
       Da ist sicher was dran, aber der ökonomische Ansatz vermag nur einen
       Teilaspekt zu erklären, und den auch nur unbefriedigend: Schließlich
       übersieht Lafargue, dass ein durch die Freizeit gesteigerter Konsum – also
       „Spielen, Saufen, Prassen, Hurerey“ – durchaus auch Interessen der
       „gierigen Bourgeoisie“ entspricht.
       
       Und so finden sich Eingaben und Widersprüche von Lebensmittel- und
       Unterhaltungsindustrie ebenso wie der Gastronomie jeweils dort, wo auf
       politischer Ebene die Beseitigung von Feiertagen diskutiert und verhandelt
       wird.
       
       Und noch weniger vermag es die Genese neuer Feiertage zu erklären und die
       Auseinandersetzungen um sie: So setzt sich der in der katholischen
       Theologie sehr unterschiedlich gedeutete Karfreitag – also der Tag, an dem
       Jesus gekreuzigt wird und stirbt – auch auf protestantischer Seite erst im
       Laufe des 19. Jahrhunderts als höchstes christliches Fest überhaupt durch.
       
       ## Bauern güllen das Feld
       
       Zugleich avanciert es dabei zum Medium des Kulturkampfs: Zwar wird der
       Karfreitag in Preußen zum allgemeinen Feiertag bestimmt, jedoch soll „in
       Gemeinden mit überwiegend katholischer Bevölkerung die bestehende
       herkömmliche Werktagsarbeit am Karfreitag nicht verboten werden“,
       formuliert das Gesetz vom 2. September 1899 eine Ausnahme, „es sei denn,
       daß es sich um öffentlich bemerkbare oder geräuschvolle Arbeiten in der
       Nähe von Gottesdiensten gewidmeten Gebäuden handelt“.
       
       In der Folge fahren, bis in die 1950er-Jahre, bei Hildesheim und rund um
       Osnabrück an diesem Tag katholische Bauern gerne ihren Mist und güllen das
       Feld. Wobei selbst diese Reaktion noch auf den gravierendsten Unterschied
       zwischen den konfessionell geprägten Festkulturen hinweist: Die
       katholischen Feste gestalten sich als Ritual im strengen Sinne. Sie wollen
       ekstatische Momente der Berührung mit dem außerzeitlichen Heilsgeschehen
       sein. Zwecklos, dagegen anzustinken.
       
       ## Protestantisches Fest als politische Veranstaltung
       
       Ganz anders bei einem protestantischen Fest. Denn das ist eine politische
       Veranstaltung und als solche anfällig für Shitstorms und Polemik. Es passt,
       dass der Karfreitag jenen Moment der biblischen Geschichten inszeniert, der
       am wenigsten von Heiligtum und Wunderei und Geheimnis hat, in dem es fast
       nur um Endlichkeit geht und Tod: Es ist der Tag, an dem Jesus gefoltert
       wird und stirbt, wie es jedem Menschen passieren kann.
       
       Während der Katholizismus für sich beansprucht, in den Gnadenräumen
       geweihter Kirchen einen eigenen Gottesstaat als Parallelgesellschaft und
       Exklave der Welt zu betreiben, haben protestantische Theologien die
       Differenz der Sphären teils beseitigt, teils irrelevant gemacht: Bei
       Huldrych Zwingli, sind Gott und Welt so radikal voneinander getrennt, dass
       ein Kontakt unmöglich scheint.
       
       Bei Martin Luther wimmelt die Welt dagegen vor Gott. Der sei "zugleich in
       einem jeglichen Körnlein ganz und gar und dennoch in allen und über allen
       und außer allen Kreaturen". Folge hier wie dort: Eine Feier hat keinen
       jenseitigen Referenzraum. Sie verortet sich im Hier und Jetzt - und wird
       fürs Hier und Jetzt durchgeführt.
       
       Weshalb Substanzen wie Alkohol oder Weihrauch, die ein transzendentales
       Gefühl oder ekstatisches Erleben befördern, oft verpönt sind. Hier, Jetzt,
       Endlichkeit, Sterblichkeit - ach, das Leben ist ernst!, und viele
       Protestanten-Feste deshalb so seltsam unfroh. Wichtiger aber wirkt die in
       ihnen sich ereignende wechselseitige Durchdringung von Politik und
       Theologie.
       
       ## Politischer Inhalt als Fest verkleidet
       
       So kann jedes kirchliche Fest in protestantischer Deutung zu einem Gefäß so
       ziemlich jeden politischen Inhalts werden - und jeder politische Inhalt
       sich in ein protestantisches Fest kleiden. Was nun staatliche Feier ist,
       was kirchlich, das lässt sich ohne Weiteres kaum sagen: So ist es der
       Preußenkönig Friedrich Wilhelm III., der den Totensonntag 1816 als eine Art
       Anti-Allerheiligen erfindet.
       
       Evangelische Geistliche dagegen, Protestantenvereine, Landeskirchen und
       Abstinenzler-Pastor Friedrich von Bodelschwingh setzen den 2. September als
       Sedantag auf den deutschen Festkalender: Das war der Tag, an dem bei Sedan
       Napoleon III. gefangen und der Krieg beendet wurde. Als das Ziel des
       "Volks- und Friedensfestes" benennt ein Gründungsaufruf, "den Radikalen und
       Sozialisten sowie den Jesuiten und Ultramontanen zu schaden". Die damals
       noch kirchenfernen SPD-Vorläuferorganisationen organisieren deshalb
       Gegenveranstaltungen, in Braunschweig sogar schon direkt 1871.
       
       Die kirchlich-protestantische Prägung dieses Jahre später erst vom Kaiser
       sanktionierten Sedantags bleibt immer deutlich: Mal stehen, wie in Kiel
       1895, "Bekränzung des Kriegerdenkmals" sowie "Schlachtenmusik und
       Feuerwerk" auf dem Ablaufplan, mal, wie in Greifswald 1872,
       Schulsportdarbietungen.
       
       ## Herrschaft dienstbar machen
       
       Immer aber sind ein Gottesdienst und ein etwa einstündiges Läuten aller
       Kirchenglocken vorgesehen. In Bremen beschließt die Bürgerschaft am 11.
       Juli 1888 sogar, "daß in diesem Jahr von einer öffentlichen Feier Abstand
       genommen" werde - einen Monat zuvor war ja bereits der zweite Kaiser des
       Jahres gestorben - "dagegen die kirchliche Feier in gewohnter Weise
       stattfinde".
       
       Protestantische Feiern neigen dazu, sich Herrschaft dienstbar zu machen.
       Einigermaßen beklommen machen daher Forderungen so beflissen evangelischer
       Landesfürsten wie des Bremer Bürgermeisters Jens Böhrnsen (SPD): Der kämpft
       dafür, 2017 den Reformationstag - zum 500-Jährigen - "mindestens einmalig
       als staatlichen Feiertag anzuerkennen".
       
       Beklommen macht das, weil es so einmalig ja eben nicht wäre, und die
       Luthertage der Vergangenheit, 1917 oder 1817, eine stark martialische,
       nationalistische Prägung hatten - und einen aggressiv antisemitischen
       Unterton.
       
       Das gilt natürlich besonders für den letzten gesamtdeutschen Luther-Tag
       1933. Zu dem hatten sich auf Geheiß von Reichsbischof Ludwig Müller Gottes-
       und Pfarrhäuser mit Reichskriegs- und Hakenkreuzflaggen geschmückt, SA,
       Kirchengemeinden, Bund deutscher Mädel, SS, Christenvereine, Hitlerjugend
       und Reichswehr zogen Choräle singend gemeinsam durch die Straßen.
       
       In Nazi-Hochburgen wie Göttingen wurde die Feier zum Groß-Event mit mehr
       als 10.000 Teilnehmern. Und in Kiel beispielsweise nahm das Kirchenamt
       seine Vorbereitung zum Anlass, alle Theologie-Studenten ultimativ zum
       SA-Beitritt aufzufordern - "als künftige Führer unserer evangelischen
       Gemeinden".
       
       Aber anders als katholische Rituale sind ja protestantische Feste
       wandelbar. Und ihre ambivalente Verschmelzung von Glauben und Politik kann
       zu so sinnvollen Erscheinungsformen finden wie den Ostermärschen. Die von
       Hamburger Quäkern 1960 initiierte Bewegung wird fast überall von
       evangelischen Vereinen getragen oder mitorganisiert.
       
       Und sie gewinnt neuerdings, während rund 90 Prozent der
       Bundestagsabgeordneten Waffengänge für ein probates Mittel von Politik zu
       halten scheinen, als außerparlamentarischer Akt an neuer Bedeutung. Formal
       lässt sie sich sehen als eine freie Osterliturgie.
       
       Mehr zum Schwerpunkt „Ostern“ lesen Sie in er taz. am Wochenende, ab heute
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       18 Apr 2014
       
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