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       # taz.de -- Das Mädchen, das „Leila Negra“ war: Nichts war normal
       
       > Als schwarzes Kind in Nazi-Deutschland musste Marie Nejar in
       > NS-Propagandafilmen mitspielen. In der Nachkriegszeit tingelte sie als
       > „Leila Negra“ durchs Land.
       
   IMG Bild: Marie Nejar 1950 an der Seite von Peter Alexander
       
       Wenn Marie Nejar geht, Straßen entlang, Treppen steigend, legt sie alle
       Eleganz, die ihr die elf Nägel im Rücken erlauben, in ihre Bewegung. Es ist
       der Disziplin abgerungene Schönheit. „Dieses Kind tanzt“, hätten Leute
       früher gesagt. Jetzt tritt sie über die Schwelle des Cafés Leonar in
       Hamburg, Grindelhof 87, nach links, nach rechts sich wendend, fast eine
       Pirouette drehend, aber so weit kommt es nicht, es ist nur eine Nuance mehr
       Hingabe an die Bewegung, wider den Schmerz.
       
       „Ich wollte Tänzerin werden“, sagt Marie Nejar, 1930 geboren, bei der
       Großmutter aufgewachsen. Diese will, dass sie Musikerin wird. Wie Marie
       Nejars Mutter Cécile. Aber die Enkelin will tanzen. „Untersteh dich, Dinge
       zu wollen“, die Großmutter war sehr streng, forderte Ehrlichkeit,
       Zuverlässigkeit, Akkuratesse, Sanftmut – Tugenden zur Genüge. Mit Tugenden
       wollte die Großmutter das Mädchen schützen, denn die Nazis waren an der
       Macht und Marie Nejar fiel auf. Sie konnte sich waschen, wie sie wollte,
       ihre Haut wurde nicht weiß.
       
       Jetzt sitzt sie, die jung aussieht mit den dunklen Augen, dem
       verschmitzten, weichen Lächeln, in diesem jüdischen Café in Hamburg. Ein
       Marzipanei liegt auf dem Tisch, ein Nougatosterhase. Sie sagt, ihr Leben
       sei ganz normal gewesen.
       
       Über dreißig Jahre war sie Krankenschwester, schon mehr als zwanzig Jahre
       Rentnerin. Es sind Jüngere, die wollen, dass sie trotzdem erzählt, wie es
       war in der Nazizeit, die sie als schwarzes Mädchen in Deutschland erlebte.
       „Ich war doch nur ein Kind“, sagt sie. Sie habe nichts erlebt. Die
       jüdischen Leute, die hätten gelitten, sie nicht. Dieses eine Interview will
       sie noch geben, dann keins mehr.
       
       ## Die Welt der Erwachsenen war schwer zu fassen
       
       Ein Zeitsprung, ein anderer Ort: Taubenstraße, Sankt Pauli, die 30er, 40er
       Jahre, Nazis, Krieg, die Polizisten der Davidwache, die ihre Akte von oben
       immer wieder unter den Stapel legen, der Hauswart vom Nachbarhaus, ein
       Nazi, der sie in den Luftschutzkeller lässt, die Schule – Marie Nejar
       lernt, was für ein großer Mann Hitler ist. Die Großmutter verbietet ihr,
       das auch nur zu denken. „Aber, Oma, in der Schule sagen sie es doch.“ Die
       Freundin der Großmutter wiederum, die mit ihnen die Wohnung teilt, eine
       glühende Verehrerin Hitlers, hängt eine Hakenkreuzfahne ans Fenster. Die
       Welt der Erwachsenen ist für Marie Nejar schwer zu fassen.
       
       Deshalb hält sie sich an die Kinder. Otti und Bärbel sind ihr die liebsten
       Freundinnen. „Ha, du spielt mit einem Neger“, beschimpfen Erwachsene
       manchmal die Freundinnen. „Marie ist kein Neger“, antworten die. Aber weil
       sie schwarz ist, wird sie eines Tages von Filmteams entdeckt und spielt in
       Propagandafilmen der UFA mit, von Goebbels höchstpersönlich vom Unterricht
       befreit. Im „Münchhausen“ fächelt sie Hans Albers mit einem Palmwedel Luft
       zu. In „Quax in Afrika“ spielt sie eine afrikanische Prinzessin. Der weiße
       Held: Heinz Rühmann.
       
       Erst als sie in den BDM will und davongejagt wird, sieht sie, dass nichts
       normal ist. Da war das halb volle Glas, mit dem sie so gern durchs Leben
       balanciert, doch für einen Moment leer. Bei der Zwangsarbeit, die sie in
       der Keksfabrik machen muss, in der außer ihr viele Franzosen arbeiten, ist
       es schon wieder gefüllt. „Es hätte schlimmer kommen können. Wir haben viele
       französische Lieder gesungen“, sagt sie. Später, als sie Französisch lernt,
       denn nach dem Krieg war sie plötzlich erst staatenlos und dann Französin,
       hat sie gemerkt, das waren schlüpfrige Lieder.
       
       Vor der Zwangsarbeit konnte die Großmutter ihre Enkelin nicht schützen. Vor
       Cécile Nejar, ihrer Mutter, auch nicht. Kommt diese in der Wohnung vorbei,
       kann es passieren, dass sie Marie nicht sehen will. Das Mädchen sei so
       hässlich, hörte sie ihre Mutter einmal sagen, die platte Nase, der
       vorstehende Unterkiefer. „Ich habe es nicht verstanden“, sagt Marie Nejar,
       aber diese Frau, ihre Mutter also, die schön gewesen sei, dunkel, mit
       europäischen Gesichtszügen, sei ihr egal gewesen.
       
       Sie hatte eine Affäre mit einem Schiffsteward aus Ghana gehabt, die
       Schwangerschaft verheimlicht, das Kind in Mülheim zur Welt gebracht und zur
       Adoption freigegeben. Als die Großmutter den Brief vom Jugendamt findet und
       liest, sagt sie: „Kommt nicht infrage“.
       
       Die Großmutter sei ihr die Mutter gewesen, sagt Nejar. Ihre Liebe galt
       dieser Frau, die sie durch die Zeit trug mit ihrer Strenge, ihrer
       Unbeugsamkeit, ihren Geheimnissen. Warum etwas ist, wie es ist? „Frag
       nicht.“
       
       Die Großmutter sorgt für Ordnung. Und straft mit Schlägen. „Damals schlugen
       doch alle Eltern die Kinder“, sagt Marie Nejar. Und Normalität stellt die
       Großmutter her. Dabei war nichts normal. Ihr eigenes Leben auch nicht. Sie
       kam aus großbürgerlichen Hamburger Verhältnissen, „eine Wüstenfeld“, sagt
       Nejar, eine Opernchorsängerin. Sie hatte ein uneheliches Kind, der „weiße“
       Onkel Egbert. Dessen Vater ein Prinz wohl – ein Familiengeheimnis.
       
       Bald danach verliebt sie sich in einen Mann, einen Kreolen aus Martinique.
       Das duldet ihre Familie nun wirklich nicht und verstößt sie. Sie geht mit
       ihm nach Riga, eröffnet eine Kneipe, bekommt noch einen Sohn und Celine,
       die Tochter. Dann der Streit in der Kneipe, Worte fliegen, „geh zurück zu
       den Wilden, wo du hergekommen bist“. Der Betrunkene ist nicht zu stoppen,
       er hat eine Waffe, drückt ab, der Großvater stirbt, die Großmutter zieht
       mit den Kindern nach Hamburg zurück. Sie sorgt dafür, dass die Tochter
       Musikerin wird, die Großmutter träumt von einer Orchesterkarriere für sie –
       die Nazis verhindern das. Die Nazis verhindern auch, dass die Tochter eine
       verpfuschte Abtreibung überlebt. Kein Krankenhaus nimmt sie auf.
       
       ## „Der Teddybär war das Schlimmste“
       
       Noch ein Zeitsprung, noch ein anderer Ort: in der Wohnstube eines
       Handwerkers, meines Vaters, auf einem Dorf in Süddeutschland. In dieser
       Stube wird Anfang der sechziger Jahre ein Plattenspieler aufgebaut. Ein
       paar Märchenplatten packt der Vater dazu aus, Rotkäppchen „Großmutter,
       warum hast du so große Ohren“, Schneewittchen „weiß wie Schnee, rot wie
       Blut, schwarz wie Ebenholz“ und eine Schallplatte für Erwachsene. Schlager
       der 50er Jahre mit Peter Alexander.
       
       Ich fand, dass ein Lied nicht auf die Schallplatte passte, ein Kinderlied.
       „Mein Teddybär, mein Teddybär muss immer mit ins Bett, er macht mir nie das
       Leben schwer, ist immer lieb und nett, und wenn ich abends schlafen geh,
       nimm ich ihn in die Arme, wie glücklich wär mein Teddybär, wenn er kein
       Teddy wär.“ Wer es sang? Danach fragte niemand, erst vor einem Monat bekam
       die Stimme Gesicht. Ich liebte das Lied als Kind, hörte es oft, habe es nie
       vergessen, eine namenlose Kinderstimme, die für Erwachsene singt, nicht für
       mich.
       
       „Der Teddybär war das Schlimmste“, sagt Marie Nejar, „ein Albtraum“.
       
       Das Lied spielt eine Rolle nach dem Krieg. Als Marie Nejar sich nach dem
       Tod der Großmutter als Zigarettenverkäuferin am Timmendorfer Strand
       verdingt. In der Strandhalle spielte eine Band auf. Einmal gab es Probleme
       mit dem Mikrofon. Ein Musiker bat sie, etwas hineinzusprechen. Sie sang ein
       Lied. Niemand im Saal hörte es. „Lass gut sein, das Mikrofon ist kaputt“,
       sagte der Musiker, aber das Mikrofon hatte den Gesang nach außen
       übertragen, nur innen hörte man nichts.
       
       Abends beim Tanz fragten die Leute, wo die Sängerin sei. So begann ihre
       Karriere als Leila Negra. Sieben Jahre lang tingelte sie durch Deutschland,
       Österreich, die Schweiz, Schweden. Mal mit Peter Alexander, mit Vico
       Torriani, Lale Andersen, Cornelia Froboess. Alexander und vor allem seine
       Frau mochte sie, sie halfen ihr, aber andere redeten schlecht über sie:
       „Die kann ja nichts“.
       
       Obwohl schon über zwanzig, wurde Marie Nejar, 1,50 Meter groß, zum
       Kinderstar aufgebaut, die braucht man nicht ernst zu nehmen. Naiv sei sie
       gewesen, sagt sie, sie habe sich die Bedingungen diktieren lassen.
       „Mamatschi“, „Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere“, „Mein
       Teddybär, mein Teddybär“, solche Lieder sang sie. Man schickte sie mit dem
       Teddy auf die Bühne.
       
       Sie war 27, als sie aufhört, Krankenschwester wird. „Wie lange soll ich
       noch mit einem Kuscheltier im Arm singen?“ Sie sagt, es sei ein Glück
       gewesen, dass sie noch eine Ausbildung zur Krankenschwester machen konnte.
       So verschwindet sie aus der Öffentlichkeit, versucht sogar nach Martinique
       auszuwandern. Das Vorhaben zerschlägt sich. Ihr Versuch, sich an einen
       Nigerianer zu binden, ebenso. Frauen und Männer getrennt, wie er es wollte,
       „das war nichts für mich. Ich bin zu deutsch.“ Und Kinder wollte sie keine.
       Sie wären ja dunkel gewesen. Das wollte sie ihnen nicht zumuten.
       
       Warum nicht?
       
       Marie Nejar beklagt sich nicht. Es ist, wie es ist. „Aber auch Sie haben
       sich die Sängerin des Teddybärliedes nicht schwarz gedacht“, sagt sie. Sie
       hat recht.
       
       20 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Waltraud Schwab
       
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