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       # taz.de -- Ruandisches Tagebuch Folge 6: Die gute Frau von Kaduha
       
       > Die deutsche Ordensschwester Milgitha rettete 1994 viele Tutsi. Ihr Orden
       > hat sich von ihr losgesagt, aber Ruanda ist für sie zur Heimat geworden.
       
   IMG Bild: Wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet - und muss heute mit einer kargen Rente auskommen: Schwester Milgitha.
       
       Freitag 11. April. Schwester Milgitha stammt aus Münster, aber sie lebt
       schon seit 41 Jahren in Ruanda. Davon hat sie 37 Jahre als katholische
       Missionsschwester im Centre de Santé in Kaduha gearbeitet, einem kleinen
       abgelegenen Bergdorf. Der Kongo und auch Burundi liegen dort näher als die
       ruandische Hauptstadt Kigali.
       
       Für viele Ruander ist Milgitha eine Heldin. Während des Völkermords hat sie
       in Kaduha ausgeharrt, sie hat Verletzte gepflegt, Tutsi aufgenommen und
       konnte über hundert Kindern das Leben retten. Direkt nach dem Morden hat
       sie aus der Mission ein Waisenhaus gemacht, hat Kinder aus Höhlen geborgen,
       aus Latrinen gerettet. Sie hat dafür Sorge getragen, dass die Tausenden,
       die allein in ihrer Kirche getötet worden waren, geborgen und bestattet
       wurden. Während sich die ruandische katholische Kirche vielfach mitschuldig
       machte – viele Priester und Bischöfe haben mitgemordet, haben Flüchtlinge
       in den Kirchen versammelt und dann die Interahamwe-Miliz geholt – hat diese
       Nonne sich den Mördern entgegengestellt.
       
       Ich freue mich, dass diese eindrucksvolle Frau Zeit für mich hat. Ich fahre
       zu einem abgelegenen, heruntergekommenen Haus am Rand von Kigali. Der Hof
       steht voller Autos, nebenan ist eine Autowerkstatt. Durch die Terassentür
       betrete ich das Haus, stehe direkt in der Wohnstube, vor mir ein einfacher
       Tisch mit fünf Stühlen.
       
       Schwester Milgitha begrüßt mich herzlich. Sie ist 79 und voll fit. Ihre
       Schwesterntracht hat fast das gleiche hellblau wie ihre großen freundlichen
       Augen, ihr Blick ist offen und direkt, ihr Händedruck kräftig, ich fühle
       mich gleich wohl. Dass ich mit Kirche nichts zu tun habe, seit dem
       Völkermord sowieso nicht, stört sie nicht. Sie hat sogar Verständnis dafür.
       
       Wir setzen uns an den Tisch, trinken Kaffee und sind gleich im Thema. Auf
       ihre Nachfrage erzähle ich von der Familie meiner Mutter und kurz auch von
       der Woche mit meinem Vater im Park 1994. Dann beginnt sie mir ihre
       Geschichte zu erzählen.
       
       Ihr Orden hat sie auf Bitte eines Bischofs aus Butare, Ruandas zweitgrößte
       Stadt, 1973 nach Ruanda entsandt, um eine Gesundheitsstation aufzubauen.
       Sie kam in die arme Bergregion des einstigen Königreichs Nyanza. 1973
       herrschte Krieg, schon damals hat sie mitbekommen, dass viele Tutsi
       umgebracht wurden. Das war die Zeit, in der auch mein Großvater ermordet
       wurde. Sie hätte drei Jahre bleiben sollen. Sie ist immer noch da.
       
       ## Das Töten begann schon 1992
       
       Wir kommen auf die 90er Jahre zu sprechen. Aufgrund des
       Demokratisierungsprozesses musste die Regierung Parteien zulassen, auch die
       RPF, die seit 1990 kämpfende Tutsi-Guerilla, sollte beteiligt werden. Doch
       das wollten nicht alle. Schwester Milgitha erzählt, dass das Töten auf den
       Straßen schon 1992 begann. Oppositionelle Politiker wurden hinterrücks
       erschossen, man wusste nicht von wem. Als Nonne hat sie sich immer aus der
       Politik herausgehalten, aber mitgekriegt hat sie natürlich dennoch vieles,
       schließlich lebte sie eng mit den Menschen zusammen. So hörte sie auch von
       einem Massaker an Tutsi 1992 im Distrikt Gisenyi.
       
       1993 begannen die Extremisten, Minen in den Straßen vergraben, einige ihrer
       Mitschwestern kamen dadurch zu Tode. Ständig wurden Versammlungen
       abgehalten, am Waldrand, meist spät abends, dort gab es Bier und die Leute
       wurden auf den Hass gegen die Tutsi immer weiter eingepeitscht. Wenn
       Milgitha nachts von Krankeneinsätzen zurückkam, hat sie diese Leute
       gesehen. Die Lage spitzte sich immer weiter zu. Es wurden Maschinengewehre
       verteilt. Auf dem Markt konnte man für 300 Franc Granaten kaufen, ganz
       öffentlich. Schon da tyrannisierten die Milizionäre der Jugendmiliz der
       damaligen Hutu-Regierungspartei, genannt Interahamwe, die Menschen. Weil
       die Jugendlichen grellbunt gekleidet hatten, sprachen die Nonnen
       untereinander von „Kanarienvögeln“. Aber mit ihren Waffen exerzierten die
       Interahamwe offen durch die Straßen.
       
       Im Januar 1994 sprach ein junger Hutu aus ihrer Gemeinde Milgitha an: Sie
       solle sich darauf vorbereiten, dass sie bald alle sterben müssten. Die
       Tutsi würden kommen und alle töten. Erschrocken sagte sie ihm, dass er ihr
       nicht solche Dinge sagen soll.
       
       Dann kam der April. Am Morgen des 7. April 1994 lief nur noch klassische
       Musik im Radio, Bach und Mozart, erinnert sich Schwester Milgitha. Der
       Kaplan der Nachbargemeinde kam vorgefahren, verletzt, zwei Kinder mit im
       Auto. Der 8-jährige war schon tot, der Kleinere starb trotz ihrer
       Rettungsversuche an seinen Machetenverletzungen. Der Kaplan erzählte ihr
       vom Absturz der Präsidentenmaschine am Abend davor und dass das Morden
       begonnen hatte. Schwester Milgitha erinnert sich an alles noch ganz genau.
       
       Schon in der Nacht zum 8.April wurden die Häuser der Tutsi angezündet und
       ganze Familien lebendig verbrannt.
       
       Neben dem Personal, das in der Gesundheitsstation arbeitete, nahmen die
       Nonnen auch noch andere Leute auf. In ihre Kirche flüchteten sich täglich
       mehr Tutsi. Sie kochte für die Flüchtlinge, besorgte Wasser, zahlte immer
       wieder Schutzgelder an Soldaten und die Milizen.
       
       ## „Ich kenne nur Ruandesen“
       
       Dreimal kamen Milizionäre, von denen sie alle persönlich kannte, direkt an
       ihre Tür und forderten sie auf, die Tutsi herauszugeben. Die Nonne weigerte
       sich. „Ich kenne keine Tutsi und Hutu, ich kenne nur Ruandesen“, sagte sie
       dem Anführer. „Und ich kenne dich, ich hab dich gesund gepflegt. Und jetzt
       stehst du vor mir mit einem Gewehr. Dann fang mit mir an.“ Die Mörder
       gingen tatsächlich wieder.
       
       Schwester Milgitha leidet aber auch darunter, dass sie unwissentlich den
       Interahamwe in die Hände gearbeitet hat. Die Tutsi saßen in der Kirche. Und
       in der Nacht zum 21. April stürmten die Milizen die Kirche.
       
       Die zwei Nonnen schlossen sie zuvor in der Gesundheitsstation ein. Erst
       warfen die Interahamwe Handgranaten ins Kirchengebäude. Später
       massakrierten sie alle noch Lebenden mit Macheten. Als die Ordensfrau sich
       am nächsten Morgen zur Kirche traute, stand sie vor einem grauenvollen
       Leichenberg.
       
       Dennoch harrte sie weiter aus, statt das Land zu verlassen. Sie blieb bei
       ihrer Gemeinde, zahlte Schutzgelder, besorgte Lebensmittel. Aus der
       Gesundheitsstation machte sie ein Waisenhaus, sammelte die Kinder ein, die
       überlebt hatten, pflegte sie gesund, spendete Trost. Am Ende des Krieges
       sind es 107 Kinder, denen sie so das Leben retten konnte.
       
       Ihr Glaube hilft ihr durch diese schweren Zeiten. Gott hat sie da
       durchgeführt, davon ist sie überzeugt. Und der Horror war noch nicht zu
       Ende. Es musste aufgeräumt, das Blut weggewaschen, die Leichenteile
       zusammengesetzt und die Toten bestattet werden. Dabei mussten ihr die
       Mörder oder deren Angehörigen helfen. Die Nonne führte akribisch Buch
       darüber, wann sie wem wieviel Geld für diese Aufräumarbeiten zahlte. Trotz
       ihrer eigenen Traumatisierung machte sie weiter. Sie kann sich ein Leben in
       Deutschland nicht vorstellen.
       
       ## Keine Spur von Bitterkeit
       
       20 Jahre sind jetzt seitdem vergangen. An der Wand hinter ihrem
       Schreibtisch hat Schwester Milgitha eine Fotocollage aufgehängt, darauf ist
       sie im Kreise „ihrer“ Kinder, die jetzt junge Erwachsene sind. Und „ihre“
       Kinder haben es geschafft. Schwester Milgitha hat sie zur Schule geschickt,
       zum Studieren. Alle haben die Chance genutzt, und ihrem Leben eine
       sagenhafte Wandlung gegeben, sind Pilot, Anwältin, Arzt geworden. Seit
       Jahren organisieren sie einmal im Jahr ein gemeinsames Treffen, das steht
       bald wieder an. Mit leuchtenden Augen erzählt die ehemalige Ordensfrau
       davon.
       
       Ich muss an die Rede von Präsident Kagame denken, die er am 7. April im
       Stadion von Kigali gehalten hat. Er sagte, dass Ruanda vor zwanzig Jahren
       alle Vorraussetzungen hatte, ein „failed state“ zu werden, ein
       gescheiterter Staat – sich die Menschen aber dagegen entschieden haben.
       Auch diese jungen Menschen waren prädestiniert dafür, in einem kaputten
       Leben dahinzuvegetieren, aber sie haben sich für ein Leben mit Zukunft
       entschieden.
       
       Der Orden der Clemensschwestern jedoch hat Schwester Milgitha für ihre
       Selbstlosigkeit bitter abgestraft. Um sich um die Kinder kümmern zu können,
       brauchte sie Geld. Sie sammelte Spenden, bettelte um Unterstützung, wo sie
       nur konnte. Und da sie das vor Ort in Ruanda im Alleingang machte, statt
       mit der Ordensverwaltung in Deutschland abgestimmt, bezichtigte der Orden
       sie später der Unterschlagung von Spendengeldern. Vom Orden, dem sie den
       Großteil ihres Lebens angehörte, wurde sie schlicht fallen gelassen. Ihre
       Arbeit in Kaduha musste sie aufgeben.
       
       Deshalb sitzt die Nonne, die man mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet
       hat, heute am Rande von Kigali in einer ärmlichen Behausung. Das Dach ist
       undicht, fließend Wasser gibt es keines und jeden Monat muss die
       Diabetikerin sehen, dass das Geld für ihre Insulinspritzen reicht. Ihre
       Rente ist winzig.
       
       Und dennoch, muss ich staunend feststellen, ist an dieser unglaublichen
       Frau keine Spur von Bitterkeit, sondern nur Wärme und Liebe. Sie lebt ihren
       Glauben und ihre Liebe zu Gott. Und sie glaubt an Ruandas Zukunft. Obwohl
       der Weg noch lang ist – das weiß sie, die jahrzehntelang in einer der
       ärmsten Ecken Ruandas gearbeitet hat, besser als viele. Die allermeisten
       Ruander sind immer noch bitterarm. Vor allem außerhalb der Hauptstadt. Wie
       in Kaduha.
       
       13 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marie-Claude Bianco
       
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