URI: 
       # taz.de -- Pharmakritiker über klinische Studien: „Wir müssen wachsam bleiben“
       
       > Die EU verpflichtet die Industrie zu mehr Transparenz bei klinischen
       > Studien. Gegen die Macht der Medikamente-PR hilft das wenig, sagt Jörg
       > Schaaber.
       
   IMG Bild: Blutabnahme heißt hier „Datensammlung“. Piekt aber trotzdem.
       
       taz: Herr Schaaber, Pharmakritiker und Wissenschaftler reiben sich die
       Augen: Das EU-Parlament hat die Industrie per Verordnung dazu verpflichtet,
       ab 2016 eine unglaubliche Datenflut zu ihren bislang geheim gehaltenen
       klinischen Arzneimittelstudien an Menschen zu veröffentlichen. Hat David
       Goliath besiegt? 
       
       Jörg Schaaber: Die Industrie hat den Kampf an dieser Stelle aufgegeben. Wir
       müssen aber wachsam bleiben, an welcher anderen Stelle sie versuchen wird,
       das Rad der Geschichte doch wieder zurückzudrehen. Aber, klar: Die neue
       EU-Verordnung ist ein großer Fortschritt für die Arzneimittel-Wissenschaft
       und für die Sicherheit von Patienten, die die Medikamente schlucken.
       
       Was ändert sich konkret bei den Arzneimittelstudien? 
       
       Bislang wurde etwa die Hälfte aller Studien gar nicht veröffentlicht. Das
       ist künftig unmöglich. Künftig wird es ein Jahr nach Studienende eine
       öffentlich zugängliche Zusammenfassung geben, egal ob die Studien
       abgeschlossen oder abgebrochen wurden. Neu ist auch, dass die so genannten
       Clinical Study Reports …
       
       … das sind die ausführlichen Auswertungen aller Studien, die
       Pharmahersteller bisher nur gegenüber den Arzneimittelzulassungsbehörden
       vorlegen mussten … 
       
       Genau. Diese detaillierten Berichte werden künftig sofort nach der
       Marktzulassung eines Medikaments über ein Webportal der
       EU-Arzneimittelbehörde EMA öffentlich verfügbar sein.
       
       Mit welchem Vorteil? 
       
       Es gibt keine selektive Veröffentlichung mehr. Bisher wurden von den
       Herstellern gern gerade diejenigen Teilergebnisse verschwiegen, die für das
       Medikament oder für den Hersteller nicht so vorteilhaft waren.
       
       Die Studienberichte sind für Laien kaum verständlich. Welchen Nutzen haben
       Verbraucher davon? 
       
       Die Studienveröffentlichungen sind in erster Linie für Spezialisten
       wichtig. Aber ohne unabhängige Wissenschaftler, die diese Daten auswerten
       können, ist Arzneimitteltherapie Blindflug. Gegenwärtig benutzen wir
       Arzneimittel, ohne wirklich alles über sie zu wissen.
       
       Ein Beispiel? 
       
       Dabigatran, ein Blutverdünner von Boehringer Ingelheim. Das Medikament
       wurde damit beworben, dass Patienten ihre Blutwerte angeblich nicht mehr
       kontrollieren müssten. Das stimmt aber gar nicht. Viele Patienten hatten
       schwere Blutungen nach der Einnahme von Dabigatran, einige starben. In den
       USA gibt es deswegen jetzt eine ganze Reihe von Prozessen. Die Anwälte von
       Patienten oder ihren Angehörigen haben erfolgreich verlangt, dass die
       Firmenunterlagen offengelegt werden. Anhand dieser Unterlagen konnte
       gezeigt werden, dass die Gerinnungshemmung durch das Medikament sehr stark
       variiert und dass diese Variation wiederum erklärt, warum manche Patienten
       einen Schlaganfall erleiden und andere schwere Blutungen. Und dass man
       folglich die Blutwerte messen muss, um Patienten vor Schaden zu schützen.
       
       Solche Fälle können Sie künftig leichter aufdecken. Wird Ihr Alarm auch
       gehört? 
       
       Wir arbeiten daran. Denn, keine Frage, die Macht der PR bleibt, da können
       Sie noch so sehr die Studien zerpflücken. Zurzeit etwa beschäftigten wir
       uns mit Hormontherapien bei Frauen in der Menopause. Seit mindestens zehn
       Jahren ist klar, dass diese Behandlungen schädlich sind. Trotzdem werden
       die Präparate weiter verschrieben. Und es wird versucht, neue Indikationen
       zu kreieren, damit Frauen nach den Wechseljahren eben doch Hormone
       schlucken.
       
       Wie ist es möglich, dass weiterhin schädliche Medikamente auf den Markt
       kommen? 
       
       Zum Beispiel, indem Hersteller Arzneimittelstudien mit ungeeigneten
       Endpunkten machen, also falsche Studienziele definieren.
       
       Wie geht das? 
       
       Bei einem Diabetes-Mittel etwa wird nicht geprüft, ob es tatsächlich zu
       weniger Herzinfarkten führt – also den Diabetikern hilft –, sondern es wird
       nur geschaut, ob es den Blutzuckerspiegel senkt.
       
       Den verordnenden Ärzten fallen solche Dinge in ihrem Praxisalltag nicht
       auf? 
       
       Es sind vor allem die Ärzte, die an die Pharma-PR glauben. Es ist ein
       ausgefeiltes System der verdeckten Beeinflussung, das die Firmen betreiben.
       Es beginnt bei Übersichtsarbeiten, die Therapien miteinander vergleichen,
       so genannte Reviews. Die Pharmavertreter stellen industriefreundliche
       Reviews kostenlos zur Verfügung, und die Ärzte lesen sie, weil sie nicht
       die Zeit haben, die Originalstudien zu lesen. Oder die Industrie schanzt
       Ärzten, von denen sie weiß, dass sie Multiplikatoren sind, etwa weil sie
       auf vielen Kongressen als Redner auftreten, ein paar Forschungsaufträge zu.
       Die subtilen Methoden der Beeinflussung sind extrem wirksam – und für den
       einzelnen Arzt nicht leicht zu erkennen.
       
       Bei aller Transparenz, die das EU-Parlament jetzt verordnet hat: Die
       Rohdaten der Studien, also die Datenblätter jedes einzelnen Patienten, muss
       die Industrie mit Rücksicht auf Datenschutz und Firmengeheimnis weiterhin
       nicht veröffentlichen. Was können Sie deswegen nicht überprüfen? 
       
       Die Rohdaten sind nützlich, um Verdachtsfällen manipulierter
       Studienergebnisse nachzugehen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das
       Grippemittel Tamiflu. Der Hersteller hatte sehr wahrscheinlich bei den
       Auswertungen der Studiendaten geschummelt. Ohne Rohdaten kann man das aber
       letztlich nicht beweisen.
       
       Wie können sich Patienten schützen? 
       
       Patienten sollten nur an Studien teilnehmen, wenn sie zugesichert bekommen,
       dass die Ergebnisse komplett veröffentlicht werden und dass sie als
       Patienten Zugang zu ihren eigenen Daten haben.
       
       11 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Haarhoff
       
       ## TAGS
       
   DIR Klinische Studien
   DIR Arzneimittelstudien
   DIR EU-Verordnung
   DIR Transparenz
   DIR Arzneimittelstudien
   DIR USA
   DIR Honorare
   DIR Arzneimittel
   DIR Pharmaindustrie
   DIR Medikamente
   DIR Klinische Studien
   DIR Klinische Studien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Fehlende Transparenz bei Pharmastudien: Kopieren und Speichern verboten
       
       Eigentlich hatte die Europäische Arzneimittelagentur mehr Transparenz in
       Sachen Studiendaten versprochen. Doch der Zugriff bleibt eingeschränkt.
       
   DIR US-Professor über Krankenhauskontrolle: „Bei uns wäre das undenkbar“
       
       In den USA werden schlecht arbeitende Krankenhäuser finanziell bestraft.
       Das verbessert die Qualität und nutzt den Patienten, sagt Ralph Weissleder.
       
   DIR Kommentar Ärztemangel: Leidtragende sind die Patienten
       
       Falsch verteilte Gelder, egoistische Kommunen, zu hohe Honorare. Es gibt
       nicht zu wenig Ärzte. Aber die Verantwortlichen blockieren sich
       gegenseitig.
       
   DIR EU-Regeln für Arzneimitteltests: Ethikkomissionen müssen zustimmen
       
       Die neue EU-Verordnung zu klinischen Studien regelt auch, wie die
       teilnehmenden Patienten über die Arzneimitteltests informiert werden
       müssen.
       
   DIR Transparenz beim Sponsoring: Geldspritze vom Pharmakonzern
       
       Ein Kodex verpflichtet Pharmaunternehmen zu mehr Transparenz: Finanzielle
       Unterstützung von Kongressen und Fortbildungen muss offengelegt werden.
       
   DIR Zulassung von Medikamenten: Geheimnisse der Pharmakonzerne
       
       In Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten fehlen oft wichtige
       Informationen für die Verbraucher. Die Industrie will, dass das auch so
       bleibt.
       
   DIR EU-Regelungen für klinische Studien: Mehr Transparenz bei Pharmatests
       
       Die Veröffentlichung der Daten von klinischen Studien soll nach EU-Recht
       nun doch verpflichtend sein. Auch eine Genehmigung der Ethikkommission ist
       vorgesehen.
       
   DIR Transparenz bei Arzneimittelstudien: Das Rezept für den Durchblick
       
       Sollen Ergebnisse klinischer Medikamentenstudien für alle zugänglich sein?
       Die EU will mehr Transparenz. Die Pharmaindustrie fürchtet um
       Geschäftsgeheimnisse.
       
   DIR Pharmaforschung für Kinder: Keine kleinen Erwachsenen
       
       Kinder müssen besonders vor medizinischen Studien geschützt werden. Das
       führt jedoch dazu, dass es für sie zu wenig passende Medikamente gibt.