URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Hirn, Hirn, wenn ich das schon höre
       
       > Die Gedankenwege des menschlichen Gehirns verlaufen immer wieder
       > überraschend und nicht immer zum eigenen Vorteil.
       
   IMG Bild: Dudelt nachts krank vor sich hin, das Hirn.
       
       Neulich habe ich mich ausnahmsweise im richtigen Moment mal an etwas von
       Belang erinnert, woraufhin eine tollkühne Kollegin anmerkte, sie hätte gern
       mein Hirn. Sie weiß nicht, was sie sagt.
       
       Ja, mein Hirn ist ein tolles, superkomplexes Teil mit vielen Sektoren. Der
       Sektor Mathe ist zwar seit dem Abi geschlossen, aber das ist ja bei den
       meisten so, außer bei denen, die ihn nie aufgekriegt haben, nicht mal mit
       Hilfe des engagierten Lehrers, der uns damals alle zur
       Konzentrationsverbesserung ins Kloster schicken wollte.
       
       Ich bin Geisteswissenschaftlerin, da darf Mathe geschlossen bleiben.
       Bedenklicher ist, dass in der Abteilung Geschichte und Erdkunde ein Clown
       herumwuselt und mit Ereignissen, Namen und Jahreszahlen jongliert. Er ruft
       zum Beispiel reflexhaft „Drei-Kaiser-Jahr“, wenn jemand „1888“ sagt, duckt
       sich dann aber schnell weg, falls weitere Erläuterungen gewünscht werden.
       Zerre ich ihn wieder hervor, stottert er Füllwörter, mit denen man
       allenfalls Kolumnen verlängern kann.
       
       Wenn ich mal nicht hingucke, rührt er den gesamten Ostblock durcheinander
       und sortiert Hauptstädte und Grenzen um. Afrika existiert schon länger nur
       noch als Umriss. Der Clown radiert. Danach taucht er zum Beispiel die
       Römischen Verträge in einen großen Wackelpudding und verlegt die
       Nato-Gründung nach Fantasien im Jahre Wumms. Das hat bisher nichts
       ausgemacht, denn es kam mir nie jemand drauf.
       
       Hauptsache, es klappt im Beruf. Da habe ich meine sieben Zwetschgen
       beieinander, der Clown bleibt draußen. Mein Hirn wird im Büro allerdings
       inzwischen von der Suchfunktion des E-Mail-Programms kompetent ersetzt.
       
       Behindert werde ich dabei von Menschen, die ihren Mails so sinnige
       Betreffzeilen wie „Morgen“ oder „Hast du?“ geben. Zwar gibt es immer noch
       eine Volltextsuche, aber leider auch Zeitgenossen, die aus
       Lustigkeitserwägungen wichtige Wödder ferkährt schreiben. Dann finde ich
       nichts mehr. Bei 350 Mails pro Woche finde ich irgendwann sowieso nichts
       mehr und bitte Kollegen, mir E-Mails von vor ein paar Tagen noch einmal zu
       schicken. Dabei schäme ich mich furchtbar und murmele was von Stress.
       
       „Schlaf dich mal aus!“, sagen sie dann. Wenn die wüssten. Sobald ich die
       Augen schließe, wird der Clown hyperaktiv, und mein Chef gründet 1888 mit
       einem sprechenden Wackelpudding die Nato in meinem E-Mail-Programm. Das
       soll ja bei anderen Menschen nachts auch so zugehen.
       
       Aber meine Versuche, mich am Abend beim Musikmachen zu entspannen, führen
       zusätzlich dazu, dass mein Hirn nachts um drei Uhr nach dem verschwitzten
       Hochschrecken gnadenlos die geübten Lieder abspult. Etüden, Jazz-Standards,
       Akkordverbindungen, alles dudelt krank vor sich hin.
       
       Was kam noch mal nach d-Moll 7 in dem Stück? Und diese interessante
       chromatische Passage da, ist die aus dem Titelsong des Krimis von gestern
       oder sollte ich sofort umschulen und Komponistin werden? Dann kann ich
       endlich auch Erdkunde und Geschichte wegen Clownbefall schließen.
       
       9 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Fischer
       
       ## TAGS
       
   DIR Gehirn
   DIR Hirnforschung
   DIR Beruf
   DIR Gastronomie
   DIR Hamburg
   DIR Nachbarn
   DIR Sotschi
   DIR Jahreswechsel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Heiteres Beruferaten
       
       Die Zeiten von Lembkes „Welches Schweinderl hätten's denn gern?“ sind
       passé. Doch auch aktuell ist die Frage nach der beruflichen Sozialisation
       wichtig.
       
   DIR Die Wahrheit: Welcome to Paradise
       
       Zur Theologie des Schnitzels und warum gerade auf Speisekarten die
       Sehnsucht nach Erlösung allgegenwärtig ist.
       
   DIR Die Wahrheit: Warnung vor dem Stöckelschuh
       
       Schmonzettenqueen Ildikó von Kürthy zieht in ihrem neuen Roman nach Hamburg
       und gleich weiter in ein Labyrinth aus schiefen Bildern und betrunkenen
       Treppen.
       
   DIR Die Wahrheit: Von Mardern und Menschen
       
       Sogar temporäre Nachbarn sind anstrengende, weil lärmende Wesen. Ganz
       besonders wenn sie im Zug ihre Sekretärinnen anpfeifen.
       
   DIR Die Wahrheit: Das war kein Salchow!
       
       Zu den beliebtesten Disziplinen der Winterspiele gehört neben Brüllhusten
       und Knallniesen auch das Hervorkramen unnützen Wissens.
       
   DIR Die Wahrheit: Steilvorlagen für schlechte Laune
       
       Den Jahreswechsel verbringe ich inzwischen am liebsten mit einem Arzt,
       einer Spezialistin für Gewaltprävention und einem Jazzmusiker.