URI: 
       # taz.de -- Kandidaten zur Europawahl: „Wir brauchen den sozialen Ausgleich“
       
       > Für viele liegt das Parlament in Straßburg und Brüssel weit, weit weg.
       > Daran will Joachim Schuster etwas ändern – wenn er als SPD-Kandidat ein
       > Mandat erringt.
       
   IMG Bild: Will ins EU-Parlament: ex-Staatsrat Joachim Schuster (SPD).
       
       taz: Herr Schuster, schaffen Sie den Sprung ins Europaparlament? 
       
       Joachim Schuster: Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch. Ich stehe ja auf
       Platz 21 der Bundesliste der SPD – und wenn wir das Bundestagswahl-Ergebnis
       wiederholen können, wäre ich auf jeden Fall im Parlament.
       
       Allerdings erreicht die SPD so gut wie nie ihr Bundestagswahlergebnis bei
       den Europawahlen und lag die letzten Male fast regelhaft acht Prozentpunkte
       unter den Umfrage-Ergebnissen – das hieße diesmal unter 20 Prozent. Woher
       nehmen Sie die Zuversicht? 
       
       Die Situation ist eine völlig andere als vor fünf Jahren zum Ende der
       vorherigen großen Koalition, in der wir uns viel weniger inhaltlich
       profilieren konnten. Da hatten wir gerade noch knapp über 20 Prozent bei
       der Europawahl…
       
       Wir haben doch schon wieder eine große Koalition. 
       
       Aber inhaltlich hat die SPD nach der Politik der Hartz-IV-Gesetzgebung
       große Korrekturen vorgenommen. Wir sind wieder die Partei des sozialen
       Zusammenhalts. Und: Wir stellen den europäischen Spitzenkandidaten fürs Amt
       des EU-Kommissars. Martin Schulz ist ein ausgewiesener und sehr
       glaubwürdiger Europapolitiker.
       
       Und der wird für die SPD mobilisierend wirken? 
       
       Auf jeden Fall. Martin Schulz kann die Menschen für die europäische Idee
       begeistern. Ich denke schon, dass wir es diesmal schaffen, das Ergebnis der
       Bundestagswahl 2013 wenigstens zu wiederholen.
       
       Wobei die Mandatsverteilung nach Sainte-Laguë bei nur 96 deutschen Sitzen
       liegt? 
       
       Ja, es bleibt schwierig einzuschätzen. Man muss auch noch einkalkulieren,
       dass die Dreiprozenthürde vom Verfassungsgericht gekippt wurde. Aber auch
       dann würde das Bundestagswahlergebnis reichen, damit ich für Bremen einen
       Platz bekomme.
       
       Sie würden in einer Zeit ins Parlament einziehen, in der Europas Frieden
       durch einen Konflikt bedroht ist, vor dem Sie einst in Ihren
       wissenschaftlichen Arbeiten gewarnt hatten – die Auseinandersetzung um die
       Ukraine. Fühlen Sie sich bestätigt? 
       
       Nein, in der Politik ist es immer schwierig, zu sagen: Ich habe recht
       gehabt. Und es ist auch unergiebig. Wahr ist: Es ist eine hochspannende
       Zeit, auch gerade in dieser außenpolitischen Frage. Es ist eine in der Tat
       sehr gefährliche Situation.
       
       Wäre die EU in den 1990er Jahren zu unsensibel gewesen? 
       
       Ich denke, dass man die Ukraine-Frage zu sehr als ein Entweder-Oder
       diskutiert hat, zu sehr gegen Russland gerichtet. Was hätte denn dagegen
       gesprochen, dass die Ukraine Verbindungen sowohl mit Russland als auch zur
       EU unterhält? Zumal sie ja ökonomisch darnieder liegt. Da wäre ein
       Miteinander sinnvoller als ein Gegeneinander. Und das spricht aus meiner
       Sicht gegen eine Sanktionspolitik.
       
       Also lieber zusehen, wie sich Russland die Krim schnappt und dann noch die
       Ost-Ukraine? 
       
       Die russische Intervention ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht und
       selbstverständlich zu verurteilen. Aber ich sehe nicht, dass sich Russland
       von Sanktionen beeindrucken ließe. Im Gegenteil: So etwas beflügelt doch
       die Kräfte, die von einer Großmacht Russland träumen – und wir laufen
       Gefahr, damit in eine Eskalationslogik hineinzugeraten. Mittlerweile wird
       ja sogar offen über eine stärkere Nato-Präsenz an der Ostgrenze
       nachgedacht. Das ist aus meiner Sicht genau das Falsche.
       
       Dieser außenpolitische Konflikt droht zugleich, den Blick auf die sich
       verschärfenden sozialen Ungleichheiten innerhalb der EU zu verstellen, das
       müsste Sie eigentlich sehr direkt betreffen? 
       
       Genau, der soziale Ausgleich in der EU ist unverzichtbar. Es wurde schon
       häufig diskutiert, ob man eine Währungsunion mit so vielen, wirtschaftlich
       unterschiedlich leistungsfähigen Staaten machen kann. Da gab es viele, die
       behauptet haben, das geht eigentlich gar nicht.
       
       Und…? Ist sie zu retten? 
       
       Sie ist zu retten, wenn wir den sinnvollen Prozess der Währungsunion durch
       eine Politik des sozialen Ausgleichs ergänzen. Stattdessen hat man in den
       letzten Jahren unter wesentlicher Beteiligung von Kanzlerin Angela Merkel
       eine stark regelgebundene Politik mit neoliberaler Grundrichtung forciert.
       Deren Effekte sind dieselben wie auf nationaler Ebene, bloß in deutlich
       schärferer Form.
       
       Sie meinen…? 
       
       Ich meine die Vertiefung der sozialen Spaltung. In Deutschland haben wir ja
       erlebt, dass die Einkommensschere auseinander geht, dass der Sektor der
       prekären Beschäftigung wächst. Wenn man diese soziale Spaltung bei Ländern
       mit zum Großteil schlechterer Ausgangslage hat, verstärkt das die Probleme
       enorm.
       
       … und fördert die Renaissance des Rechtsradikalismus? 
       
       Das sind die Folgen, ja. Wo Europa keine Perspektive bietet, und das ist ja
       bei einer Jugendarbeitslosigkeit von nahezu 50 Prozent in mehreren Ländern
       der Fall, wird es zu einem Nährboden für Radikalisierungstendenzen. Dem
       kann ich nur etwas entgegensetzen, wenn ich allen Menschen in der EU auch
       eine entsprechende soziale Perspektive biete. Wir brauchen eine Politik des
       Ausgleichs.
       
       Da lässt sich angesichts des Verfassungsgerichts-Urteils fragen, ob Brüssel
       die Kompetenzen hat, das zu ändern. 
       
       Diese Kompetenzen hat Brüssel. Karlsruhe hat in dieser Frage eine überholte
       Vorstellung von der Wirklichkeit abgebildet. Im Kern könnte man die
       Urteilsbegründung etwas bösartig so zusammenfassen, dass nach Ansicht des
       Bundesverfassungsgerichts das Europaparlament ohnehin nichts zu melden hat.
       Und es daher auch egal sei, wie viele Splitterparteien da drin sitzen.
       
       Das entspricht einer verbreiteten Wahrnehmung… 
       
       … aber einer offenkundig falschen! Es ist ein echtes Problem, dass für
       viele Menschen Brüssel so weit weg zu liegen scheint und als intransparent
       und unwichtig gilt. Denn sehr viele Entscheidungen des Europaparlaments
       sind mindestens vorprägend für die nationale Gesetzgebung. Und diese
       Entscheidungen greifen so tief in die Lebensverhältnisse ein, dass auch die
       Medien der EU eigentlich viel größeres Gewicht beimessen müssten.
       
       7 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
   DIR Einkommen
   DIR CDU
   DIR Twitter / X
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Einkommensverteilung in Deutschland: Große Schere zwischen Arm und Reich
       
       In Deutschland besitzen die oberen 10 Prozent mehr als die Hälfte des
       Vermögens. Der DGB macht dafür eine ungerechte Steuerpolitik
       verantwortlich.
       
   DIR CDU-Parteitag nominiert McAllister: In Rekordzeit nach Europa
       
       Im Akkord stimmt sich die CDU auf die Europawahl ein: Merkel droht Putin,
       Ehrengast Juncker mahnt die Türkei, Posten werden auch vergeben.
       
   DIR EU-Politiker Schulz kritisiert Türkei: Gemeinschaft nur mit Gezwitscher
       
       SPD-Politiker Schulz und die USA kritisieren Ministerpräsident Erdogan für
       die Sperrung von Twitter. Dessen Regierung führt Gespräche mit dem Dienst.