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       # taz.de -- Esskultur im Norden: Die Küchenfrage
       
       > Vijay Sapre gibt das Gourmet-Magazin Effilee heraus - ausgerechnet in
       > Hamburg, mitten in der kulinarischen Diaspora Norddeutschland.
       
   IMG Bild: Geht für die Hanseatin gar nicht: Schweinebraten.
       
       HAMBURG taz | Geboren bin ich in Hamburg, aber meine Kindheit und Jugend
       habe ich in Süddeutschland verbracht, erst in Biberach an der Riß und
       später in Erlangen. Kurz nach dem Abitur beschloss ich, nach Hamburg
       zurückzukehren. Ein Freund und Mentor gab mir damals die sehr ernst
       gemeinte Warnung mit auf den Weg, ich würde mich mit dem Essen schwer tun
       „dort oben“, man habe weder Kultur noch Metzger noch Brot.
       
       Ob das stimmt, will ich zunächst dahingestellt sein lassen. Schwerwiegender
       empfand ich dies: Während es in Erlangen in den 90ern üblich war, mit dem
       frischen Führerschein und der neuen Flamme „nach Adlitz“ zu fahren, ins
       Dorf auf dem Berg, um sich dort an Schweinebraten, Knödeln und Bier zu
       delektieren, war in Hamburg damals schon das erste, was in der neuen
       Bekanntschaft abgeklärt wurde, die aktuelle Diätsituation: vegetarisch,
       Atkins, Montignac, nur Fisch, kein Fisch – die Hanseatin wusste beim Essen
       vor allem, was sie nicht wollte. Schweinebraten war auf dieser Negativliste
       ganz oben.
       
       Und das Vorurteil mit dem Metzger und dem Bäcker lässt sich bestätigen:
       „Wir backen zweimal täglich frisch für Sie“, las ich gerade. Das bedeutet
       hier: Vorgebackene Tiefkühlbrötchen werden im „Frischezentrum“ regeneriert.
       Das muss man auch zweimal am Tag tun, weil sie schon nach wenigen Stunden
       kaum noch genießbar sind. Ein fränkisches Graubrot hingegen wird erst nach
       einer Woche wirklich gut. Offensichtlich ist der Stellenwert selbst so
       einfacher Dinge im Norden einfach nicht so groß.
       
       Meiner Erfahrung nach ist in Süddeutschland vor allem der kulinarische
       Unter- und Mittelbau viel stärker ausgeprägt, die dazugehörigen Traditionen
       sind viel lebendiger. Jedem fallen auf Anhieb ein paar norddeutsche
       Gerichte ein, sei es Aalsuppe oder Labskaus, aber wenn es um Restaurants
       geht, wo so etwas auf anständigem Niveau frisch gekocht und serviert wird,
       wird es schnell dünn. In München gibt es vielleicht nicht an jeder Ecke,
       aber mindestens in jedem Stadtviertel eine Wirtschaft, die Wollwürste oder
       Saure Lunge serviert.
       
       Ich vermute, dass das viel mit den verschiedenen Konfessionen zu tun hat.
       Auch wenn die Leute nicht mehr in die Kirche gehen, spielen die kulturellen
       Prägungen immer noch eine große Rolle. Und wenn man sich auf der Karte
       ansieht, wo in Deutschland vorwiegend Katholiken leben, sind das auch die
       Gegenden, wo am meisten Sternerestaurants sind: Baden-Württemberg, Bayern,
       das Rheinland.
       
       Für die These spricht auch, dass heute „Sünde“ quasi ein Synonym für Genuss
       geworden ist. Kein Bissen ohne schlechtes Gewissen. Die Protestanten haben
       ja nicht nur den Prunk, den Zölibat und die lateinische Messe abgeschafft,
       sondern auch die Beichte, die dem Sünder erlaubt, schon im Diesseits wieder
       mit sich und dem Glauben ins Reine zu kommen. Und wer nicht beichten kann,
       der muss die Sünde erst recht meiden.
       
       Dazu kommt die Neigung des Norddeutschen zur Distanz. Man lässt sich ungern
       auf den Teller schauen. Mein erstes Gourmetrestaurant in Hamburg war Anfang
       der 90er das Landhaus Scherrer. Die hatten damals noch zwei Sterne, und ich
       musste mir das nötige Geld als Taxifahrer zusammensparen. Was mich am
       meisten beeindruckte, neben dem überaus einfühlsamen Service, der sich nie
       anmerken ließ, dass er genau wusste, dass ich mir den Besuch gar nicht
       leisten konnte, war, wie weit die Tische auseinanderstanden. So bleibt man
       unter sich, selbst wenn man ausgeht. Nicht wenige Hamburger, habe ich
       seither gelernt, bleiben sogar gleich ganz zu Hause und lassen sich dort
       bekochen.
       
       Nein, wegen der Küche muss man nicht nach Hamburg ziehen. Trotzdem kann ich
       mir heute nicht mehr vorstellen, irgendwo anders zu leben. Bei den wirklich
       guten Restaurants stört es mich sowieso nicht, wenn ich reisen muss. Für
       Häuser wie das „Buddenbrooks“ und das „Belle Epoque“ in Travemünde, das
       „Aqua“ in Wolfsburg, das „Haerlin“ in Hamburg würde ich auch aus München
       anreisen. Und abgesehen davon kann man ja auch mal ganz hanseatisch zu
       Hause bleiben und selber kochen. Schweinebraten.
       
       5 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Vijay Sapre
       
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