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       # taz.de -- Diskussion mit Chipperfield und Sennett: Stadtpomeranzen unter sich
       
       > Warum bietet Berlin für seine Bürger noch Möglichkeiten zum
       > Experimentieren? Darüber diskutierten Richard Sennett und David
       > Chipperfield.
       
   IMG Bild: Es ist eng und kalt in den Megacities, hier New York.
       
       Das Leben in der Stadt wird die Zukunft der Menschen bestimmen. Seit sechs
       Jahren leben weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Neben der
       Flucht vom Land aus ökonomischen Zwängen und privaten Gründen, sich in der
       Großstadt ein neues Leben aufzubauen, muss es tiefer liegende Gründe für
       diesen Boom geben: Was macht das Prinzip Stadt aus?
       
       Dieser Frage gehen der Soziologie Richard Sennett und Architekt David
       Chipperfield, moderiert von Alexander Kluge, am Donnerstagabend im Haus der
       Kulturen der Welt (HKW) nach. Die drei wagen eine steile These: Die Stadt
       ist eine der größten Erfindungen der Menschheit. So bekennt sich Kluge
       gleich zu Beginn: „Ich bin eine Stadtpomeranze. Ein Leben außerhalb der
       Stadt kann ich mir gar nicht vorstellen.“
       
       Dabei ist es dort laut, dreckig, und es stinkt. Es kommen unterschiedliche
       Menschen zusammen, deren Werte, Zielvorstellungen und Lebenspraktiken sich
       schon aus Gründen der Wahrscheinlichkeit oft widersprechen. Das führt zu
       Reibungen. Und diese führen oft zu Konflikten.
       
       Doch genau das, sagt Sennett, macht die Stadt aus: „Dass Fremde
       zusammenkommen. Dass man sich angeregt fühlt durch den Anderen.“ Es lasse
       sich in der Stadt nicht vermeiden, auf Menschen zu stoßen, mit denen man
       auch mal nichts zu tun haben will. Aber erst dadurch werde gelernt, mit
       Andersartigkeit umzugehen. Es ist ein alter Hut: Ausländerfeindlichkeit ist
       immer dort am größten, wo keine Ausländer sind. Es geht also um das
       Aufeinandertreffen; darum, öffentliche Räume zu teilen. Denn erst
       öffentliche Orte machen eine Stadt gesellig.
       
       Wie aber sieht die Entwicklung in Großstädten weltweit aus? Werden an
       Orten, wo das Kapital sich in imposanten Bauten niederlässt, spontane
       Zusammenkünfte nicht zu unerwünschten Störfällen? Ist es nicht so, dass für
       immer mehr Menschen – sei es im Gezipark in Istanbul oder auf dem
       Tempelhofer Feld in Berlin – die Frage im Raum steht: „Wie wird
       öffentlicher Raum verhandelt?“
       
       In immer mehr Städten weltweit verliert der öffentliche Raum jedenfalls an
       Bedeutung, sagt Architekt Chipperfield. Er nennt ein zentrales Problem:
       Architektur ist zurzeit bedingungslos an das Zusammenwirken von Form und
       Funktion gebunden. Oder in anderen Worten: In Städten wie London oder New
       York tummeln sich Bürogebäude alle auf einem Fleck. Was bleibt, ist eine
       monofunktionale Büroindustrie.
       
       Wenn man bedenkt, dass aufgrund der Finanzkrise der vergangenen sechs Jahre
       viele Büros am Times Square in New York leerstehen, werde laut Chipperfield
       deutlich, dass eine Stadt sozial und funktional ausbalanciert sein muss.
       Die Dönerbude neben der Bank, der Handwerker neben dem Theater. Wichtig, so
       Chipperfields Credo, ist die Mischung. Genau das findet der Stararchitekt
       an Berlin auch so besonders. Denn hier gebe es noch eine soziale Mischung:
       Neben einem maroden Plattenbau stehe ein paar Meter weiter ein
       Luxusrestaurant. Und es funktioniere.
       
       Es sei selten, so Chipperfield weiter, dass sich Bürger für ihr Stadtbild
       so stark wie in Berlin engagieren. Das mag historische Gründe haben: Die
       einstigen brachliegen Flächen nach der Wende haben einen außerordentlichen
       Raum für Kreativität geboten. Und heute, da diese leeren Plätze zunehmend
       verschwinden, wachse ein Bewusstsein für Stadtentwicklung. So hätten die
       Berliner eine starke Meinung darüber entwickelt, wie ihre Stadt auszusehen
       habe. Oder zumindest finde häufig eine Auseinandersetzung über Sinn und
       Nutzen von (Groß-) Bauprojekten statt.
       
       Der Drang der Berliner, Dinge, Plätze oder Gebäude zu erhalten, mutet zwar
       zuweilen etwas zwanghaft an. Aber was mitunter aktionistisch und hysterisch
       wirkt, zeigt nur, dass der Kampf um den öffentlichen Raum noch nicht
       aufgegeben wurde. Sennett sieht darin den Wunsch, Raum für Begegnungen zu
       erhalten, in dem Widersprüchliches aufeinander treffen kann und es zu
       unerwarteten Begegnungen kommt.
       
       Für London hingegen, in dessen Zentrum die monofunktionale Büroindustrie
       längst etabliert ist, hat Chipperfield einen schönen Vergleich parat: Wirft
       man einen Frosch in kochendes Wasser, springt er sofort wieder raus. Legt
       man ihn aber in kaltes Wasser und bringt es dann zum kochen, merkt er
       nichts von seinem nahenden Tod. Auch die Londoner merkten, was mit ihrer
       Stadt passiert war, erst als es schon viel zu spät war.
       
       ## ■ Die Veranstaltungsreihe „Stadt, Religion, Kapitalismus“ im Haus der
       Kulturen der Welt endet am heutigen Samstag. Um 20 Uhr diskutieren die
       Wissenschaftler Saskia Sassen und Joseph Vogl über die Anfänge der Märkte.
       Um 18 Uhr zeigt Alexander Kluge seinen Film „Früchte des Vertrauens“
       
       4 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Baran Korkmaz
       
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