URI: 
       # taz.de -- taz-Serie Drogen und Gewalt in Mexiko: In der Stadt der ermordeten Frauen
       
       > Durch den „Feminicidio“, die Frauentötung, wurde Ciudad Juárez
       > weltberühmt. Eine Sonderstaatsanwaltschaft wurde geschaffen. Doch die
       > Gewalt blieb.
       
   IMG Bild: Polizisten suchen nach Überresten ermordeter Frauen am Stadtrand von Ciudad Juárez, Mexiko.
       
       CIUDAD JUÁREZ taz | Die Stufe 1 ist harmlos. „Dein Mann sagt Dinge wie: ,Du
       bist dumm‘, ,Du bügelst schlecht, oder ,Du kannst nicht kochen‘“. Ab der 8.
       Stufe endet der blaue Bereich. Die rote Linie beginnt. Zu ihr zählen: an
       den Ohren ziehen. Morddrohungen. Schließlich: das Abschneiden von Fingern.
       Am Ende steht der Mord, Stufe 27. Silvia Najera hat das Gewalt-o-Meter
       erstellt. Sie sagt: „Die Frauen sollen ein Gefühl dafür bekommen, wann sie
       die Notbremse ziehen müssen.“
       
       Najera arbeitet bei der neuen Sonderstaatsanwaltschaft für Gewalt gegen
       Frauen in Ciudad Juárez. Ihr Büro liegt in einem fast militärisch
       gesicherten Neubau im Westen der Stadt. Neonlicht, Glaswände, klimatisierte
       Flure. Hunderte schlecht kopierter Suchanzeigen mit den Bildern vermisster
       Frauen hängen an den Wänden. Die Gänge sind voll. Junge Frauen, Opfer
       häuslicher Gewalt, kleine, quengelnde Kinder, die Wartezeit ist lang.
       
       Draußen am Zaun hängt ein Transparent von der Demo, die Familien von
       Gewaltopfern am Vortag gemacht haben: „Wir wollen keine Knochen, wir wollen
       sie lebend“, steht darauf. Immer wieder werden Leichenreste in der Umgebung
       von Juárez gefunden, fast nie gelingt es der Polizei, verschleppte Frauen
       lebend zu befreien.
       
       Die staubige, sich endlos ausdehnende Millionenstadt Ciudad Juárez, gelegen
       inmitten der Wüste von Chihuahua direkt an der texanischen Grenze, war
       früher ein boomender Ort. Viele Texaner kamen, um billige Bars zu besuchen.
       US-Firmen verlagerten ihre Produktion hierher. Sie stellten bevorzugt
       Arbeiterinnen an; sie galten als zuverlässiger, weil sie seltener tranken
       als die Männer. Juárez wurde ein Ort, der auch gering qualifizierten Frauen
       die Chance auf wirtschaftliche Unabhängigkeit bot – eine Rarität in Mexiko.
       
       Doch 1993 begann der Feminicidio, eine Mordserie, der laut einem UN-Bericht
       bis Mitte 2012 1.234 Frauen zum Opfer gefallen sind. Und dabei blieb es
       nicht. Seit 2008 kämpfen die Drogenkartelle um die Vorherrschaft in der
       Region, den Auseinandersetzungen fielen seither etwa 12.000 Menschen zum
       Opfer. Frauenhandel und Zwangsprostitution sind ein Nebenerwerb der
       Drogenkartelle.
       
       Dennoch, sagt Silvia Najera, werde die Stadt „dämonisiert“: „Was es hier
       gibt, das gibt es anderswo auch“, betont sie. „Im ganzen Land verschwinden
       Frauen, aber 95 Prozent tauchen wieder auf.“
       
       ## Leichen auf dem Baumwollfeld
       
       Mit dieser Haltung ist die Staatsanwaltschaft in der Vergangenheit an viele
       Fälle verschwundener oder ermordeter Frauenmord herangetreten. Unter
       anderem an den von Esmeralda Herrera Monreal, einer 15-jährigen Arbeiterin,
       die am 29. Oktober 2001 ermordet und vergewaltigt auf einem Baumwollfeld im
       Stadtgebiet von Juárez gefunden wurde. Später kamen noch sieben weitere
       Leichen auf diesem Baumwollfeld hinzu.
       
       Die Schlampigkeit und Unwilligkeit der Ermittlungen haben den
       Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt. „Die
       Ermittlungen sind nicht gut gelaufen“, räumt Najera ein. Deswegen hat sie
       jetzt einen Job: „Mexiko musste sich zur Prävention von Gewalt gegen Frauen
       verpflichten. Deshalb gibt es jetzt diese Staatsanwaltschaft.“
       
       Und der geht es nicht nur um Mord. „Montags kommen die meisten“, sagt
       Najera. Viele ihrer Klientinnen erscheinen mit blauen Flecken. „Die Männer
       kriegen freitags Geld und kaufen dann Tequila. Die Frauen sagen: ’Er mag
       mich sehr, deswegen schlägt er mich.‘ Dann verzeihen sie ihm und gehen
       zurück. Und dann macht der Mann weiter.“
       
       Tatsächlich Anzeige erstatteten Frauen meist nur bei exzessiver Gewalt,
       „das ist etwa eine von zehn Frauen“, schätzt Najera. Oft kämen sie am
       nächsten Tag wieder und wollten die Anzeige zurückziehen. „Aber das geht
       dann nicht mehr“: Um zu verhindern, dass Männer neue Gewalt einsetzen, um
       Strafverfolgung zu verhindern, können Anzeigen wegen häuslicher Gewalt
       nicht annulliert werden.
       
       Für die Gewalt gebe es viele Gründe, sagt Najera: „Die extreme Armut, beide
       Elternteile müssen arbeiten. Wenn die Mädchen 15 Jahre alt werden, gehen
       sie mit dem erstbesten Mann weg.“ Streit gebe es auch, wenn „die Frau
       verdient und der Mann nicht“ – die Männer reagierten auf den Rollenwechsel
       mit Aggression, vor allem, wenn die Frauen ihr Einkommen nutzten, um sich
       zu trennen.
       
       Und schließlich sei Juárez eine Grenzstadt mit einer hohen Rate an
       Prostitution. „Dabei sehen viele Frauen, die Opfer von Frauenhandel werden,
       das gar nicht so,“ sagt Najera. „Sie bekommen ein wenig Geld und fühlen
       sich bezahlt. Sie verwechseln das mit Fürsorge.“
       
       ## Menschenhandel und Zwangsprostitution
       
       Nicht allen Frauen kann Najera helfen. Manche landen in der Casa Amiga, dem
       einzigen Frauenhaus in Ciudad Juarez. Hier hängen die gleichen
       fotokopierten Vermisstenanzeigen mit blassen Schwarz-Weiß-Bildern junger
       Frauen wie in der Staatsanwaltschaft. Doch vor der Tür stehen keine Wachen.
       Die kann sich die Casa Amiga nicht leisten.
       
       „Das Schlimmste ist die Straflosigkeit“, sagt Irma Casas, die Leiterin. „Es
       gibt hier Gewalt gegen Frauen in jeder denkbaren Form: häusliche Gewalt,
       sexualisierte Gewalt, Menschenhandel und Zwangsprostitution, Mord. Doch die
       Polizei ahndet fast nichts.“ Seit 14 Jahren arbeitet die Psychologin in dem
       Frauenhaus; ein unscheinbarer Gebäudekomplex in einem Wohngebiet im
       Südosten der Stadt, wie alles hier unerreichbar ohne Auto.
       
       Im Flur hängen Kurspläne, „Selbstermächtigung“ steht darauf, dienstags und
       donnerstags gibt es Wing-Tsun, Kampfsport. „Viele Frauen haben Angst, auf
       der Straße angegriffen und vergewaltigt zu werden“, sagt Casas. „Die
       Nachfrage nach unseren Kursen ist groß.“ Das Angebot ist klein.
       
       Die Auseinandersetzungen zwischen Polizei, Armee und den rivalisierenden
       Drogenkartellen haben „die Zivilgesellschaft an den Rand des Kollaps‘
       gebracht.“ Fast 200.000 Menschen haben die Stadt verlassen, darunter viele,
       die sich engagiert haben. Elf Frauen arbeiten in der Casa Amiga. „Wir
       bringen sie manchmal in andere Städte, aber wir schicken niemand weg“, sagt
       Casas. „Im Notfallhaus dürfen die Frauen eine Woche leben. Seit 2004 haben
       wir zwei weitere versteckte Wohnungen, dort können sie drei Monate
       bleiben.“
       
       Mehrfach sind wütende Männer in das Gebäude eingedrungen. „Wir sagen dann,
       dass ihre Frauen nicht da sind und zeigen ihnen ein paar Räume. Die meisten
       gehen dann.“ Das Frauenhaus erstatte Anzeige gegen alle Männer, die „uns
       das Gefühl geben, dass unsere Integrität bedroht ist“, sagt Casas, „es ist
       das einzige, was wir machen können.“
       
       Aber bei den Anzeigen komme ebenso wenig heraus wie bei Notrufen: „Die
       Polizei kommt einfach nicht.“ Die Sicherheitsmaßnahmen für die
       Beschäftigten sind dürftig. Um Punkt 17 Uhr, solange es noch hell ist,
       verlassen alle gemeinsam das Büro, setzen sich in ihre auf einem umzäunten
       Hof geparkten Autos und fahren gemeinsam im Konvoi davon. Nur eine
       Betreuerin bleibt in der Notfallwohnung zurück.
       
       Den schlimmsten Angriff hat Casas 2010 erlebt. Unbekannte schossen damals
       von außen in das Gebäude. „Niemand wurde verletzt, aber es war schrecklich,
       vier Tage haben wir das Haus nicht wieder eröffnet. Wir dachten, wenn sie
       jetzt schießen, kommen sie vielleicht das nächste Mal rein.“ Die Polizei
       hat die Patronenhülsen und die Überwachungsbänder mitgenommen, die Täter
       gefunden hat sie nicht. „Man wird paranoid“, sagt Casas. „Wenn man auf der
       Straße ein Auto langsam heranfahren hört, ist da immer Angst.“
       
       Das eint die Beschäftigten des Frauenhauses mit ihrer Klientel. „80 Prozent
       der Frauen, die zu uns kommen, leiden unter häuslicher Gewalt“, sagt Casas.
       Gern würde sie deswegen ein Aufklärungs- und Präventionsprogramm starten,
       doch allein kann das Frauenhaus dies nicht leisten. Anders wäre es, wenn
       die Kirchen mitzögen. Doch vor allem die katholische Kirche sperre sich:
       „Die sagen, dass es nicht so viel häusliche Gewalt gibt, dass alles nur
       Einzelfälle sind.“
       
       ## Die Kirche schaut weg
       
       Umgerechnet 400.000 Euro im Jahr kostet der Betrieb des Frauenhauses. Es
       existiert nur, weil sich die traurige Berühmtheit der Stadt ein wenig auf
       das Casa Amiga übertragen hat. „Die Botschaften von Holland, USA, Spanien
       und Deutschland unterstützen uns, das meiste Geld kommt von internationalen
       Stiftungen.“ Hauptfinanzier ist die Hester-Stiftung des Ehepaars van Nierop
       aus den Niederlanden. Ihre Tochter Hester wurde 1998 in einem Hotel in
       Ciudad Juarez vergewaltigt und enthauptet.
       
       „Die Polizei hasst es, von uns unter Druck gesetzt zu werden“, sagt Casas.
       Einmal habe die Bundespolizei nachts an ihrer Wohnung geklingelt. „Sie
       sagten, sie müssten bei mir nach Drogen suchen.“ Sie verwüsteten die
       Wohnung. Gefunden haben sie nichts. Eine Woche ging Casas mit ihrem Freund
       und ihrem elfjährigen Sohn über die Grenze nach Texas, „wir hatten totale
       Angst“, das sei wohl auch so beabsichtigt gewesen. Eine Zeitlang habe sie
       danach versucht, sich in der Öffentlichkeit zurückzuhalten, keine
       Interviews mehr, zumindest nicht mit Namen oder Foto. Doch nach einiger
       Zeit sei dies nicht mehr durchzuhalten gewesen.
       
       Viele Psychologen, die im Casa Amiga gearbeitet hätten, sind schnell an
       ihre Grenzen gelangt und haben sich einen anderen Job gesucht. Sie ist
       geblieben. Wie verkraftet sie das alles? „Ich werde krank, ich werde müde,“
       sagt sie. „Man bekommt Probleme mit der Familie.“ Das einzige, was ihr
       bleibe, sei „sehr stark auf mich selbst zu achten, Zeit mit den Kindern,
       Zeit mit mir zu verbringen, zum Yoga zu gehen und alle zwei Wochen zur
       Psychotherapie. Man muss raus damit, das macht einen sonst fertig.“ Ihr sei
       nicht egal, was mit ihr passiert, sagt Casas, aber sie könne auch nicht
       einfach etwas anderes machen. „Ich bin Teil von all dem hier.“
       
       7 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
       ## TAGS
       
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Mexiko
   DIR Drogen
   DIR Organisierte Kriminalität
   DIR Mexiko
   DIR Mexiko
   DIR Mexiko
   DIR Mexiko
   DIR Zwangsprostitution
   DIR Mexiko
   DIR Prohibition
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Frauenmorde in Ciudad Juárez: 697 Jahre Haft
       
       22 Jahre lang schauten die Behörden zu, oder machten mit, als Hunderte
       Frauen gequält, vergewaltigt, getötet wurden. Nun gab es Urteile.
       
   DIR Kinder aus Heim in Mexiko befreit: Schlafen zwischen Ratten
       
       Mexikanische Sicherheitskräfte haben Hunderte Kinder aus einem Internat
       befreit. Sie lebten unter erbärmlichen Bedingungen und sollen sexuell
       missbraucht worden sein.
       
   DIR Drogenhandel in Mexiko: Fußball kennt keine Gnade
       
       Mexikanische Soldaten haben den Anführer des Tijuana-Drogenkartells
       verhaftet. Sie schlugen zu, während er das WM-Spiel zwischen Mexiko und
       Kroatien sah.
       
   DIR Künstler im Grenzgebiet Mexiko-USA: Ein gespaltenes Land
       
       La Frontera – eine Wunde zwischen zwei Ländern: die Grenze zwischen den USA
       und Mexiko, die von ihren Künstlern am Leben gehalten wird.
       
   DIR Erdbeben in Mexiko: Touristen-Schreck in Acapulco
       
       Ein Erdbeben der Stärke 7,2 erschüttert Mexiko. Das Epizentrum lag in der
       Nähe des Badeortes Acapulco, doch auch in Mexiko-Stadt war das Beben noch
       zu spüren.
       
   DIR Kampf gegen Zwangsprostitution: Zurück zu Kontrollen und Razzien
       
       An den Vorschlägen der Union zur Prostitutionsregelung kommt kaum Kritik
       aus der SPD. Sexarbeiterinnen aber befürchten mehr Kontrolle.
       
   DIR taz-Serie Drogen und Gewalt in Mexiko: Das Morden und die Quote
       
       Sie müssen täglich über das Sterben berichten und werden selbst bedroht.
       Die Reporter von Ciudad Juárez berichten trotzdem weiter über die Morde der
       Kartelle.
       
   DIR taz-Serie Drogen und Gewalt in Mexiko: Kiffen für den Frieden
       
       Der Krieg gegen Drogen ist in Mexiko Staatsdoktrin. Doch er fordert immer
       mehr Opfer. In den USA wie Mexiko kämpfen Aktivisten für ein Ende der
       Prohibition.