URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Ein Hoch auf die größten Hits
       
       > Schallplattenspieler sind eine Nazi-Erfindung. Das Geschrammel von
       > College-Rock und Skate-Punk kommt auf einem CD-Player besser zur Geltung.
       
   IMG Bild: Horst „Bayernalpha“ Seehofer in seinem sexten Element.
       
       Meine erste Platte war von Pink Floyd. Zur Erstkommunion überreichte sie
       mir mit seligem Blick der Patenonkel, ich solle sie in Ehren halten. Mutter
       bedankte sich artig und ich feuerte das Scheißding unters Bett. Es war
       1998, was sollte ich mit einer Schallplatte? Wir hatten ja nicht mal einen
       Plattenspieler, was auch gut und richtig war, schließlich war der
       Plattenspieler eine Nazi-Erfindung aus dem Dritten Reich, das hatte ich im
       Heimat- und Sachkunde-Unterricht gelernt.
       
       Zum Glück hatte mir Oma einen CD-Player der Marke Sony unter die erste
       Hostie gelegt. Kein Wunder, dachte ich, die Großmutter hat die Schrecken
       der Plattenspielerzeit als Kind noch erlebt. Gemeinsam mit meiner
       Jugendliebe Alexandra konnte ich endlich CDs der Backstreet Boys hören.
       „Get down“ und „I want it that way“ – sie schrieben ihre Songs nicht selbst
       und waren deshalb total gut.
       
       Doch bald schon war es 2001, ich hörte die alten Hits nur noch heimlich und
       tat vor der versammelten Familie kund, dass ich die Backstreet Boys
       inzwischen vollends beschissen fände. Natürlich war es Lüge und Verrat,
       aber was sollte ich tun? Ich hatte mich mit Alexandra überworfen, ihre
       Stelle wurde von coolen Skaterkumpels besetzt, die Blink-182 und Green Day
       hörten. Also hörte ich mit dreizehn Skate-Punk und College-Rock, und nach
       kurzer Zeit gefiel mir das Geschrammel sogar.
       
       Es folgten angenehme Jahre, in denen nichts verraten werden musste: Ein
       paar hören HipHop, andere Metal, und ich kann für immer mein seichtes
       Gepunke hören, dachte ich und irrte. Denn bevor ich mich überhaupt an einer
       Universität einschreiben konnte, war der College-Rock von gestern und
       peinlich. Die Mitschüler waren mitsamt ihrem Musikgeschmack längst in die
       sozialen Netzwerke gezogen. Dort ist es bekanntermaßen heiliges Gesetz,
       dass man täglich etwas neu entdecken muss, vor allen anderen. „Was einmal
       nur im Radio läuft, gehört schon zum Establishment“, reimen wir heute und
       folgen einander scheinheilig auf Spotify. Es gilt schon als Ausdruck
       eigener Kreativität, sich irgendwelche Folk- und Oldschool-HipHop-Cover an
       der Pinnwand zusammenzudrapieren.
       
       Ich aber sage: Lang lebe der Backstreet Boy, lang der Pop-Punk! Und das
       Gleiche gilt für euch da draußen: Wer möchte, darf die Rolling Stones auch
       erst als Neunzehnmillionster bei Facebook ohne Scham mit „Gefällt mir“
       markieren. Wer die Toten Hosen bereits 1968 liebte, darf das auch heute
       noch. Und ihnen verzeihen, dass sie sich 1989 in Scorpions umbenannten,
       Campino diese alberne Ledermütze aufsetzten und seitdem jedes Lied mit
       einem Pfeifsolo eröffnen.
       
       Und wer die Böhsen Onkelz schon ganz, ganz früher schätzte, darf im Juni zu
       ihrem Hockenheim-Konzert gehen, obwohl sie sich inzwischen dem linken
       Meinungsmainstream anbiedern. Letzteres gilt auch für die freundliche
       Tiroler Extremistenkapelle Frei.Wild, deren Alben immer noch am besten
       klingen, wenn man sie auf einem ganz alten Nazi-Plattenspieler abspielt.
       Aber bitte, bitte niemals Pink Floyd!
       
       2 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Moritz Hürtgen
       
       ## TAGS
       
   DIR Schallplatten
   DIR Horst Seehofer
   DIR Wirtschaft
   DIR Fußball-WM 2014
   DIR ADAC
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Sexy Terrorbiester
       
       Nach dem Sexskandal in der Münchner Parteizentrale verspricht CSU-Chef
       Horst Seehofer schonungslose Keuschheit.
       
   DIR Die Wahrheit: Das grübelnde Sandmännchen
       
       Auf den Spuren des IFO-Index. Wo und wie tickt das wichtigste
       Stimmungsbarometer der deutschen Wirtschaft? Ein Ortstermin in München.
       
   DIR Die Wahrheit: Kaderschmiede, olé!
       
       Coaching tut Not: Wie Béla Réthy, Oliver Kahn und Co. auf die mediale
       Begleitung der Fußball-WM abgerichtet werden.
       
   DIR Die Wahrheit: Mein Ein und Alles
       
       Der Skandal um die „Motorwelt“ zerstört nicht nur die Glaubwürdigkeit des
       ADAC, sondern setzt auch gehöriges Erinnerungspotential frei.