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       # taz.de -- Surreales Politikum: Eine antideutsche Oper
       
       > Bremens Theater inszeniert eine Rarität: Bohuslav Martinus Oper
       > "Juliette" war bei ihrer Uraufführung ein Riesenerfolg - bis die Nazis
       > einmarschierten.
       
   IMG Bild: Wunschtraum? Albtraum? Quatschtraum? Egal! Hyojong Kim befindet sich als Michel jedenfalls mittendrin.
       
       BREMEN taz | Der Traum ist ein Politikum, auch wenn er kein Transparent
       hochhält. Und deshalb ist er ein Wagnis. Wobei unentscheidbar bleibt, ob
       die größere Gefahr darin besteht, sich in seiner somnolenten Atmosphäre zu
       verlieren – oder eben aus ihr in eine Wirklichkeit zurückzukehren, die sich
       anschickt, zum Albdruck zu werden.
       
       Am Ende von Bohuslav Martinus im März 1938 in Prag uraufgeführter Oper
       „Juliette où la Clé des songes“ steht ihre einzige reale Figur, der
       reisende Buchhändler Michel, im Zentralbüro des Traums.
       
       Das verwaltet ein Vorsteher mit harter Hand, doch Michel, dessen klingender
       Traum diese Oper ist, widersetzt sich dem Versuch des Beamten, in sein
       Privatestes hineinzuregieren, er missachtet seine Warnungen.
       
       Und so erklimmt Tenor Hyojong Kim schließlich, der die Monsterpartie des
       Michel wacker und doch sehr zart bewältigt, jene steil aufragende Treppe
       mitten auf der Bühne des [1][Bremer Goethe-Theaters], Stufe für Stufe. An
       ihrem Ende führt eine Tür in eine Insel des Lichts – oder Nichts? – mitten
       im nachtschwarzen Himmel. Michel wird die Schwelle überschreiten.
       
       Und so endet die Oper als Vision. Die wirkt, wie das gesamte Bühnenbild von
       Johanna Pfau, wie eine kluge Übernahme aus René Magrittes Bilderfundus, ein
       Eindruck, den Ian Galloways Videoprojektionen auf die diversen schmalen
       Fenster und Türen und an die kargen Hauswände noch verstärken.
       
       Und nichts könnte wohl eine bessere Kulisse abgeben für den von
       unvorhersehbaren Wendungen, grotesker Komik, albernen Späßen und panischem
       Schrecken skandierten Trip Michels durch einen Ort am Meer, bevölkert von
       amnesischen Menschen: Albtraum? Wunschtraum? Quatschtraum? Egal!
       
       Michel will im „Hôtel des Navigateurs“ einchecken, wo ihn ein arabischer
       Metzger beinahe schächtet, erinnert sich an ein Aufzieh-Entchen seiner
       Kindheit, und dann an das Lied einer schönen Frau – hieß sie Juliette? –,
       das sie, vor drei Jahren, exakt hier, in diesem Ort, an jenem Fenster,
       sang.
       
       Auch wenn keiner sie kennt, Michel wird sie treffen, er schießt auf sie,
       keine Ahnung, ob es sie gibt: Nadja Stefanoff verdeutlicht den Zwiespalt
       der Sehnsuchtsfigur durch strahlende physische Präsenz und munteren
       Kostümwechsel einerseits – und andererseits, indem sie fast zu schön singt,
       um wahr zu sein. Eindeutig ein Genuss.
       
       Wenn diese Opernpremiere Fragen hinterlässt, dann eigentlich nur die, wie
       diese wundervoll eigentümliche „Juliette“, die erste abendfüllende
       surrealistische Oper, Jahrzehnte in der Versenkung verschwinden konnte –
       während es bis heute nicht gelingen will, die Gesamtkunstwerksneurose
       abzustreifen und den nazikompatiblen Wagnerquatsch zu vergessen.
       
       Denn ausdrücklich gegen dessen Zwangsvereinigung aller Künste positioniert
       sich die Klangpoesie des 1890 in Böhmen geborenen Komponisten Martinu, der
       ab 1923 in Paris lebt: Als eine die Individualität der Instrumentalstimmen
       feiernde, stark französisch geprägte, sowohl mit Slawismen als auch mit
       Jazz aufgeladene, klare, freie Welt-Musik.
       
       In ihr bestehen die Gegensätze nebeneinander, während Weltuntergangs-Wagner
       und seine Anhänger sie mittels Vernichtung zu Einheit vermusen. Und, ja:
       Wenn das als Vollendung der deutschen Oper korrekt verstanden ist, dann
       sind Martinus Schöpfungen, vor allem aber seine polymorphe „Juliette“,
       glatt antideutsch.
       
       Mit Grund: „Das ganze Werk“, so hatte der Komponist seine Faszination für
       das als Vorlage dienende absurde Drama des ukrainisch-französischen
       Dichters Georges Neveux benannt, „stellt einen verzweifelten Kampf dar“,
       und zwar „um die Bewahrung seiner eigenen Stabilität“. Denn die Identität,
       werde „ständig erschüttert“ und „bombardiert“.
       
       Im Lichte der Ereignisse zeigt sich darin das prophetische Potenzial des
       Surrealismus, seine politische Relevanz. Sie ergibt sich daraus, dass, wie
       Theodor W. Adorno beobachtet hat, „die bedrohlichsten Momente der sozialen
       Realität in das subjektive Unbewusste eingehen“. Auch der sehr viel
       bewusster politische Kurt Weill wollte Neveux’ Stück vertonen.
       
       Mit dem Einmarsch der Nazis in der Tschechoslowakei im September 1938 endet
       für lange Zeit die Aufführungsgeschichte der bei der Uraufführung
       umjubelten Oper. Volle 21 Jahre später wird sie erstmals in Deutschland
       gezeigt, im französischen Rouen spielt man sie dann Ende der 1970er. Erst
       seit zwölf Jahren sickert sie endlich langsam ins Repertoire ein.
       
       Eine Zäsur ist die Uraufführung auch für Martinu: Prag verlässt er hastig
       wieder Richtung Paris, von dort emigriert bald darauf in die USA. In seinem
       Spätwerk wird er eine in der Juliette-Oper geprägte Akkord-Folge, einen
       sehnsüchtigen Plagalschluss, zur Chiffre umfunktionieren. Wobei die Bremer
       Inszenierung Derartiges keineswegs zupackend herausarbeitet.
       
       Im Gegenteil, es wirkt, als ließe John Fulljames die aus Text und Partitur
       sich ergebenden Bilder nach bester surrealistischer Manier einfach wachsen:
       Sich treiben lassen von der Dynamik des Stücks und dem Sog der Musik.
       
       Den allerdings sollte man dann nicht durch gleich zwei Pausen so rabiat
       unterbrechen: Jedes Erwachen macht ja den Traum zunichte. Es kostet
       Energie, sich neu aufs Unterbewusste einzulassen, auf den Sirenengesang der
       Musik. Aber es gelingt.
       
       ## Nächste Termine: 3., 8., 11., 19. & 27. 4., jeweils 19.30 Uhr
       
       2 Apr 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.theaterbremen.de/de_DE/spielplan/juliette.951840
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
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