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       # taz.de -- Kolumne Nüchtern: Saufen als Abkürzung
       
       > Die neuronalen Codes der Abhängigkeit bleiben ein Leben lang erhalten.
       > Dem muss man die Sorge um sich selbst entgegensetzen. Das hilft.
       
   IMG Bild: Danach gibt es immer ein böses Erwachen.
       
       Seit ich diese Kolumne schreibe, fällt mir auf, wie viele Menschen ein
       Problem damit haben, Abhängigkeit tatsächlich als eine Krankheit zu
       verstehen. Weit verbreitet ist nach wie vor die Annahme, dass man erst
       „krank“ sei, wenn die Leberwerte in dramatische Höhen schießen oder man
       andere mit riskantem Trinkverhalten verbundene körperliche Leiden erfährt.
       
       Die traurige Wahrheit ist, dass es für die Betroffenen dann oft schon fast
       zu spät ist. Abhängigkeit ist eine Krankheit, die sehr viel mehr umfasst
       als das Trinken von Alkohol. Lange bevor sie organische Spuren hinterlässt,
       verändert sie nach und nach die Psyche der Erkrankten.
       
       Die meisten Neurologen verstehen Alkoholkrankheit heute, vereinfacht
       gesagt, als eine fehlgeschlagene Form des Lernens. Genauso wenig, wie das
       Gehirn verlernt, Fahrrad zu fahren oder zu schwimmen, verlernt es das
       übermäßige Trinken. Die damit assoziierten Gefühle und Erinnerungen sind in
       die biochemischen Kreisläufe des Gehirns eingebrannt.
       
       In noch nicht ausreichend erforschten Prozessen kommt es im Nucleus
       accumbens, dem Lustzentrum des Gehirns, bei regelmäßiger Alkoholzufuhr
       zudem zu einer Wucherung bestimmter Nervenzellen, den sogenannten
       Stachelneuronen.
       
       Diese Veränderungen sind irreversibel. Die neuronalen Codes der
       Abhängigkeit zeigen sich nicht nur sehr viel früher, als man gemeinhin
       annimmt. Sie bleiben auch ein Leben lang erhalten.
       
       Wenn ich heute an jene Zeit denke, in der ich noch getrunken habe, kommt es
       mir so vor, als hätte ich oft versucht, im Trinken eine Art Abkürzung zu
       finden, als hätte ich alles mögliche auf den Alkohol projiziert: Das
       Bedürfnis nach Nähe, den Wunsch nach Entspannung, das Begehren nach
       Entgrenzung und Auflösung.
       
       Darin bestand für mich die Verführungskraft des Trinkens: Alkohol machte es
       einfacher für mich, die Welt anzunehmen, es machte mich, mein Leben und
       andere Menschen lustiger, attraktiver, schlichtweg erträglicher. Wenn man
       eine Substanz derart besetzt, wird es natürlich schwer, seine Bedürfnisse
       auf eine andere, eine reale Weise zu befriedigen, sich auf eine gesunde
       Weise um sich zu kümmern. Das ist etwas, das man nach und nach verlernt,
       wenn man trinkt.
       
       Eine Freundin von mir, die seit nun schon fast zwei Jahrzehnten nüchtern
       ist, sagt oft, dass man als Extrinker eigentlich erst nach fünf Jahren
       Nüchternheit herausfinde, wer man wirklich ist, und dass man dann noch fünf
       weitere Jahre brauche, um dafür einstehen zu können.
       
       ## Zweieinhalb Jahre ohne Alkohol
       
       Keine Ahnung, ob das stimmt, zum jetzigen Zeitpunkt trinke ich etwas mehr
       als zweieinhalb Jahre nicht mehr. Aber obwohl sich mein Leben seither
       komplett verändert hat und es mir tatsächlich so geht wie noch nie, habe
       ich ein Gefühl dafür, was sie meint. Ich muss oft an ihre Aussage denken.
       
       Ich sehe das an vielen meiner Freunde und Bekannten: Die einzige Chance für
       eine lang anhaltende Nüchternheit, für ein glückliches Leben, dafür also,
       den neuronalen Codes der Abhängigkeit etwas entgegenzusetzen, besteht, auch
       wenn das esoterisch klingen mag, in einer echte Sorge für sich selbst. Sie
       besteht darin, sich all jenen Konflikten und unangenehmen Gefühlen zu
       stellen, denen man sich nie stellen wollte. Darin, sich durch seine Scham
       und seine Wut zu arbeiten, darin, sich wirklich selbst kennenzulernen und
       dieses authentische Selbst nicht zu verraten.
       
       Das ist etwas, was Zeit braucht, viel Zeit. Und wie könnte es das auch
       nicht. Und es ist Zeit, die sich auszahlt. Der Lohn für diese Arbeit ist so
       viel schöner, als man es sich je hätte vorstellen können: Man wird zu der
       Person, die man wirklich schon immer sein wollte, zu dem Menschen, der man
       schon immer werden sollte.
       
       1 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Schreiber
       
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