URI: 
       # taz.de -- Militärpsychatrie im Ersten Weltkrieg: „Kriegszitterer“ waren verpönt
       
       > Elektroschocks und Isolation: Um „Kriegshysteriker“ zurück zur Front zu
       > bringen, wurden in der noch jungen Disziplin drastische Methoden
       > angewandt.
       
   IMG Bild: „Ganze Kompanien wurden von nervösen Zuständen, Weinkrämpfen, Erbrechen und so weiter befallen“: Soldaten an einem Waldrand an der Westfront.
       
       Das Bild wirkt aus heutiger Sicht lächerlich, ist aber keineswegs lustig:
       Der Nervenarzt im Behandlungsraum marschierte im Stechschritt vorneweg als
       „Schrittmacher“, er gab militärische Kommandos „in tunlichster Präzision“.
       Der kranke Soldat war angehalten, den Kommandos zu folgen. Zeigte er
       Unwillen, gab es einen leichten elektrischen Schlag zur Disziplinierung. So
       beschrieb im Jahre 1917 der Psychiater Ferdinand Kehrer seine Therapie von
       „Kriegsneurotikern“.
       
       „Sicherlich wohl die unmittelbarste, straffste und tiefgehendste Form der
       Einwirkung auf den Willen stellt die Methode des Gewalt- oder
       Zwangsexerzierens dar. Was wir mit den bisher erwähnten Willensmethoden in
       geduldig mühseliger Bearbeitung über viele Tage oder Wochen, vielleicht
       (sic!) bis zu vollem Erfolge erreichen, leistet das Gewaltexerzieren in
       Minuten bis höchstens Stunden“, schwärmte Kehrer, der auch nach zwei
       Weltkriegen in Deutschland noch den Ruf eines anerkannten Nervenarztes
       genoss.
       
       Mit dem Ersten Weltkrieg nahm die sogenannte Militärpsychiatrie in
       Deutschland ihren Anfang. Deren Methoden waren drastisch, wie die Autoren
       Peter Riedesser und Axel Verderber dokumentieren („Maschinengewehre hinter
       der Front“, Mabuse Verlag 2011). Die zum Teil folterähnlichen Therapien,
       die eher den Charakter einer Abschreckung hatten, waren auch
       kriegsstrategisch und ökonomisch begründet.
       
       Mit Elektroschocks, Isolation und Disziplinierungen sollten dienstunfähige
       Soldaten möglichst rasch wieder an die Front gezwungen und Simulanten
       abgeschreckt werden. Auch ging es darum, Entschädigungsrenten zu
       verhindern, indem man die Erkrankungen nicht auf den Kriegseinsatz, sondern
       auf angebliche Charakterfehler der „Psychopathen“ und „Hysteriker“ schob,
       die nicht in den Kampf ums Vaterland ziehen wollten.
       
       „Die Behandlungsethik spielte im Ersten und Zweiten Weltkrieg keine Rolle“,
       sagt der Traumaexperte Hans-Ulrich Wittchen von der Technischen Universität
       Dresden im Gespräch mit der taz. „Es ging nicht darum, welche Therapie für
       das Individuum gut und angemessen ist, sondern um die Frage, wie man die
       Soldaten möglichst schnell wieder an die Front bekommt.“ Die jungen
       Soldaten, von denen viele aus den mittleren und oberen Schichten kamen,
       waren auf die Wirklichkeit in den Schützengräben seelisch nicht
       vorbereitet. Das Ausharren und Ausgeliefertsein im Stellungskrieg, das
       Granatenfeuer, die Flammenwerfer, der ohrenbetäubende Lärm, die ständige
       Lebens- und Verletzungsgefahr ließen viele Soldaten zusammenbrechen.
       
       „Ganze Kompanien (wurden) von nervösen Zuständen, Weinkrämpfen, Erbrechen
       und so weiter befallen“, schrieb der Psychiater Robert Gaupp im Jahre 1916.
       Die Ärzte sahen „Zittern, Schwäche der Beine, Heulen und Lachen in wildem
       Durcheinander“.
       
       ## Metallische Kugel im Kehlkopf
       
       Die „Kriegszitterer“ wurden zum Massenphänomen, die das Heer auch vor
       logistische Probleme stellte. Deswegen kamen drastische und kurzzeitige
       Verfahren wie die berüchtigte „Kaufmann-Kur“ zu trauriger Berühmtheit. Die
       Nervenärzte verabreichten den Erkrankten hierbei sehr schmerzhafte
       Elektroschocks und bearbeiteten sie mit Kommandos und suggestiven Sprüchen.
       
       Bei der Muck’schen Kehlkopftherapie wurde gar Soldaten, die verstummt
       waren, eine metallische Kugel in den Kehlkopf eingeführt, wie die Autoren
       Babette Quinkert, Philipp Rauh und Ulrike Winkler darlegen („Krieg und
       Psychiatrie 1914–1950“, Wallstein Verlag 2010). Die Erstickungsangst sollte
       die Traumatisierten wieder zum Sprechen bringen.
       
       Allerdings, so belegen diese Autoren, gab es damals durchaus auch andere
       Ärzte, die ethisch handelten und psychisch dekompensierte Soldaten mit
       „Ruhe, Extrakost und Beruhigungsmitteln“ therapierten, was auch gute
       Wirkung zeigte. Solange die Soldaten nicht wieder an die Front
       zurückmussten. Die Militärpsychiatrie im Ersten Weltkrieg, die aus heutiger
       Sicht so inhuman wirkt, war abhängig von politischen Interessen und
       begrenzten ökonomischen Ressourcen. An dieser Abhängigkeit hat sich nichts
       geändert.
       
       Heute werden traumatisierte Soldaten nach einem Afghanistan-Einsatz
       psychotherapeutisch behandelt, für die relativ geringe Zahl von Betroffenen
       wurden erst unlängst neue therapeutische Ressourcen geschaffen. Dafür gibt
       es handfeste politische Interessen: Man muss die Soldaten auch nach dem
       Einsatz gut behandeln, um weiterhin Freiwillige für den Militärdienst zu
       gewinnen.
       
       29 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Erster Weltkrieg
   DIR Schwerpunkt Erster Weltkrieg
   DIR Soldaten
   DIR Lemberg
   DIR Schwerpunkt Erster Weltkrieg
   DIR Schwerpunkt Erster Weltkrieg
   DIR Verantwortung
   DIR Schwerpunkt Erster Weltkrieg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Traumatisierte Soldaten: Panikattacken und Depressionen
       
       Aus dem Auslandseinsatz zurückkehrende Soldaten leiden oft an Belastungen.
       Psychologen kritisieren die Instrumentalisierung durch das Militär.
       
   DIR Erster Weltkrieg und die Ukraine: Die alte Grenze prägt bis heute
       
       Der Westen der Ukraine gehörte bis zum Ersten Weltkrieg den Habsburgern.
       Von deren Toleranz profitierten die Kultur – und der Nationalismus.
       
   DIR Überleben im Ersten Weltkrieg: Opas Notizen vom Krieg
       
       Willy Hillenbrand kritzelte als Soldat Belanglosigkeiten in ein Büchlein.
       Das Büchlein rettete ihm das Leben. Dennoch gehörte er zur Generation
       Arschkarte.
       
   DIR Forscher über Maschinengewehre: „Der Feind ist ein anderer“
       
       Das erste MG im Deutschen Reich wurde zur Chiffre für etwas Serielles, das
       nichts Besonderes hat. Lenin sah darin ein Modell für die Planwirtschaft.
       
   DIR Deutsche Verantwortung für den 1. WK: Die Sehnsucht, unschuldig zu sein
       
       Der Historiker Christopher Clark spricht Deutschland von der Verantwortung
       für den Krieg frei. Die Zustimmung ist groß, doch so einfach ist es nicht.
       
   DIR Erster Weltkrieg im Theater: Das große Rauschen des Krieges
       
       Luk Perceval inszeniert am Thalia in Hamburg „Front“ – frei nach Romanen
       von Erich Maria Remarque und Henri Barbusse.