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       # taz.de -- Klettern: Wozu die Qual am Berg?
       
       > Am Drahtseil zum Gipfel. Vor allem Österreich baut immer spektakulärere
       > Eisenparcours. Werden die Alpen zum Fun- und Abenteuerpark?
       
   IMG Bild: Er kann es – auch ohne Seil.
       
       Freund Ferdinand fragt fassungslos: „Woas willst du hinauf zu den Wolken?“
       Er wartet gar nicht auf eine Antwort. „Okay, der Messner und die
       Huber-Buam, die verdienen ihr Geld am Berg. Aber muss jeder fette
       Flachlandtiroler die Ferien im Fels verbringen und dabei den Herrgott
       herausfordern? Heiligt der Spaß alle Mittel?“
       
       Bestürzt nimmt Ferdinand zur Kenntnis, dass in den Alpen immer neue
       Klettersteige entstehen, damit eine wachsende „Horde von Höhenräuschlern“
       die Steilwände erstürmen kann. „Wahnsinnig worden“, presst er noch heraus,
       mehr Feststellung als Frage, und schüttelt schockiert seinen Schopf. Nicht
       jeder Österreicher ist bergaffin, schon gar nicht jeder Wiener.
       
       Hügelauf und -ab zu hatschen, mühsamen Schritts und stinkend von Schweiß,
       um dann, Ameisen gleich, sich einzureihen in die Kette der Kletterer in
       einer „Via Ferrata“, sich Hunderte von Metern hochzuwuchten über Felsen,
       Leitern, Stifte, Haken, in überhängenden Wänden den Tod im Blick, gegen
       einen Sturz nur leidlich gesichert mittels zweier schlanker Seile? Für
       Ferdinand sind das „Verirrungen von Verstandesamputierten“. Wozu die Qual?
       Wieso hängen sich immer mehr Menschen an ein Drahtseil, um Alpengipfel zu
       erreichen? Fragen wir ein paar dieser Irren!
       
       Stefan braucht’s luftig. Der 50-jährige Münchner betreibt alle Sportarten,
       die in der Natur möglich sind: horizontale Langstrecken beim Marathon,
       vertikale beim Bergsteigen. Auch Freeclimbing hat er ausprobiert. Das aber
       war nicht sein Ding. „Nach der Lösung für ein Problem in der Wand zu suchen
       hat mich nicht interessiert. Ich suche das Naturerlebnis.“ Inzwischen
       genügen dem 50-Jährigen, der auch dem Himalajagipfel näher gekommen ist, am
       Wochenende die Alpen vor der Haustür: der Königsjodler am Hochkönig bei
       Berchtesgaden (sehr lang und schwierig) oder der Mittenwalder Klettersteig,
       aber in den Ferien darf’s schon „die schönste Berglandschaft der Welt“
       sein, wie er sagt: Südtirol.
       
       ## Für den Berg aufstehen
       
       17 Tage Urlaub heißt für Stefan 17-mal Weckerklingeln um 5 Uhr. „Für den
       Berg aufzustehen fällt mir gar nicht schwer“, sagt er, „für die Arbeit
       schon.“ Es dämmert noch, wenn Stefan aufbricht, er atmet Nebel aus, bald
       dampft auch seine Kleidung. Der Zustieg zur „Via Ferrata“ kann dauern, aber
       drei Stunden bergauf zu wandern schreckt Stefan nicht. Die ersten Geher
       werden belohnt: Sie treffen im Morgengrauen noch einen Fuchs oder ein Rudel
       Rehe, weiter oben ein Murmeltier. Und irgendwann lugt die Sonne im Osten
       über einen Gipfel und beleuchtet – weit unten schon – Meter für Meter das
       Tal. Nach 60, 120 oder 180 Minuten ist die erste Etappe geschafft, der
       Einstieg in den Klettersteig erreicht.
       
       Rein in den Hüftgurt, Helm auf den Kopf und Handschuhe über die Hände,
       Karabiner eingehakt, die Hand an den Fels, und los geht’s: Die nächsten
       300, 500, 900 Höhenmeter warten. Die Karabiner ratschen übers Seil, klicken
       beim Umhängen am Anker, die Fußspitze sucht Tritt um Tritt, die Hände
       greifen Fels, Stahl oder Eisen, die Arme ziehen, die Beine stemmen, bis das
       Ziel erreicht ist.
       
       „Wozu das?“, fragt Ferdinand. „Die Knochen knarzen, die Muskeln meutern,
       das Herz hämmert und die Lunge pfeift in der dünnen Luft. Was ist das Ziel
       dieser Qual?“
       
       ## Jeder Schritt, jeder Griff wohlüberlegt
       
       Fragen wir Jutta, die ihr Herz für die Berge erst vor drei, vier Jahren
       entdeckt hat, mit 52 Lenzen. „Der Weg ist das Ziel“, sagt die Berlinerin.
       „Ich schalte im Klettersteig völlig ab. Am Berg habe ich keine Zeit für die
       Sorgen des Alltags. Ich konzentriere mich nur auf das Gelände, die Natur.“
       Schwätzer und Klatschbasen würden am Berg ganz still, sagt sie. Die meisten
       jedenfalls. Musik zu hören wie beim Wandern oder Joggen verbiete sich. Wer
       im oder auf dem Berg Mails checkt oder die Kopfhörer aufsetzt, solle unten
       bleiben. Beim Klettern sei es unmöglich, sich dem Takt von Musik anzupassen
       wie beim Mountainbiken oder Joggen. Jeder Schritt, jeder Griff wolle wohl
       überlegt sein. Klettern sei nicht Fließbandarbeit, es erledigt sich nicht
       in Trance. „Der Berg fordert meine ganze Aufmerksamkeit, ich richte mich
       nach ihm. Du suchst den nächsten Griff, den nächsten Schritt. Dafür gibt es
       keinen Takt. Das dauert so lange, wie es dauert.“
       
       Die Welt ist anders da oben, und wer einsteigt, muss anderen Regeln folgen,
       den Bergregeln. Wer klettert, lernt Respekt und Demut; man muss warten,
       wenn’s weiter vorn langsamer geht. Hier wird verständnisvoll geholfen,
       nicht verständnislos gehupt; hier ist der Schwächere das Maß, hat der
       Ellbogen kein Recht; Zeit ist hier nicht Geld, Eile kann tödlich sein.
       
       Wer klettert, lernt Toleranz; hier wird noch akzeptiert, dass „jeder nach
       seinen Möglichkeiten“ handelt. Umgekehrt kann, wem es ein Bedürfnis ist und
       wer fit und beweglich bleibt, jedermann und jede Frau bis ins hohe Alter
       mitmachen; am Berg gibt’s weder Jugendwahn noch Zwangspensionierung.
       
       Wer klettert, lernt Zielstrebigkeit; es gibt ein Ziel und einen Plan, auch
       einen Plan B. Vorher zu denken, das zahlt sich aus im Berg. Wie wird das
       Wetter? Muss ich Wasser mitschleppen und, wenn ja, wie viel? Das können
       Fragen von existenzieller Bedeutung sein. Vor allem aber jene: Bin ich fit
       genug, um diesen Weg zu bewältigen? In ihrer Begeisterung für diese Art des
       Bergerlebnisses ist Jutta nicht allein, die Gemeinde wächst.
       
       Der Deutsche Alpenverein (DAV) berichtete schon 2007 von einem „alpenweiten
       Trend zur Neuerschließung von Klettersteigen“, den der Verein
       „grundsätzlich kritisch“ sieht. Aber Kletterer, Bergführer, Hüttenpächter
       und andere Gastgewerbler sowie Seilbahnbetreiber und Tourismusmanager
       befürworten diese Entwicklung. Und so hat sich der DAV entschlossen, was
       nicht zu verhindern ist, wenigstens mitzugestalten und dabei „sehr hohe
       Anforderungen an Bedarf, Naturverträglichkeit, Sicherheit und
       alpinsportliche Konzeption“ zu stellen. „Die Errichtung eines Klettersteigs
       darf keine Schädigung von Natur und Umwelt und keine tief greifenden
       Eingriffe mit sich bringen. Die Anforderungen des Artenschutzes sind zu
       berücksichtigen. Die Gefährdung einzelner Arten oder Lebensräume muss
       ausgeschlossen werden.“
       
       ## Dreimal so viele Notfallmeldungen
       
       Der Umweltgruppe Mountain Wilderness International, zu deren Gründern 1987
       die Bergsteiger Reinhold Messner und Edmund Hillary gehörten, genügt das
       nicht. Die deutsche und die schweizerische Sektion der Bergschützer haben
       im vorigen Jahr eine Dokumentation erstellt („Gipfel der Verdrahtung“), in
       der sie den „explosionshaften Anstieg von Klettersteigen“ in Deutschland,
       Österreich und der Schweiz beklagten. Seit 2007 seien dort mehr als 100
       neue Klettersteige errichtet worden. Österreich habe mit inzwischen rund
       600 Anlagen sogar das „klassische Klettersteigland“ Italien überholt. In
       Deutschland gibt es inzwischen mehr als 200 Steige, in der Schweiz etwa
       170.
       
       Der Vorsitzende des deutschen Verbands, Michael Pröttel, will kein
       „Spaßverhinderer“ sein. „Aber die Alpen sind längst übererschlossen“, sagt
       er. „Genug ist einfach genug!“ Neue Steige, die im Tal mit
       Funpark-Elementen wie dem Flying Fox oder in der Nähe von Bergstationen
       gebaut werden, erfordern keine langen Zustiege. Der „Klettersteigpapst“
       Eugen E. Hüsler beklagt in der genannten Broschüre, dass „Natur so zur
       Kulisse verkommt. Da könnte man diese Eisenparcours ja gleich in die Städte
       bauen, Hochhäuser stehen in Frankfurt oder Berlin genug.“
       
       Die Kommerzialisierung der Bergwelt hat Folgen. Pröttels Rechnung ist
       einfach: Das zeitgeistige Angebot lockt mehr Menschen in die Berge, auch
       solche, die nicht das Naturerlebnis suchen, sondern den Nervenkitzel –
       häufig ungeübte. Und deshalb nimmt die Zahl der Unglücke zu. Tatsächlich
       registrierte der DAV heute dreimal so viele Notfallmeldungen wie vor zehn
       Jahren. Die Zahl der Stürze nahm kaum zu, Ursache für Einsätze der
       Bergrettung sind häufiger körperliche Probleme oder Blockierung.
       „Klettersteiggeher sind zunehmend den Gesamtanforderungen des angestrebten
       Klettersteigs nicht gewachsen“, resümierte der DAV in der Saison 2013. Bei
       keiner anderen Bergsportdisziplin sei ein so hoher Anteil wenig Erfahrener
       von Unfällen und Notfällen betroffen. Der DAV warnt: „Alpine Klettersteige
       sind nicht geeignet, körperliche Grenzen auszuloten.“
       
       Der Kletterfan Stefan teilt diese Kritik an den Funparks, die vor allem
       Österreich zu einem „Alpenkitschdorado“ entwickelt habe, „mit teils sehr
       verschandelten Tälern, hässlichen Großhotels und einem völlig
       durchstrukturierten Freizeitangebot“. Aber dem könne man immer noch
       ausweichen, „auch wenn es an manchen Steigen im Voralpenland zugeht wie auf
       der Autobahn, nur dass man nicht überholen kann“ und die Bergretter immer
       öfter Leute aus der Wand rausholen müssten, die sich überschätzt haben und
       damit auch andere gefährden. Aber insgesamt seien Klettersteige kein
       Problem. „An der Zugspitze stören nicht die Klettersteige, die raufführen,
       sondern der Trubel durch die Bergbahntouristen (teils auf Stöckelschuhen),
       der einen oben erwartet“, sagt er. „Die meisten Klettersteige nimmt man
       optisch nicht mal wahr.“ Im Vergleich zu Skipisten und -liften sei der
       Naturverbrauch durch Klettersteige gering. „Das bisschen, was da vernagelt
       wurde, schädigt die Natur nicht“, urteilt Stefan. „Und schließlich hat
       jeder das Recht, die Schönheit der Berge zu genießen.“
       
       Freund Ferdinand hat daran kein Interesse. Sein Urteil hat sich angesichts
       der Entwicklung vor allem in seinem Land Österreich gefestigt:
       „Klettersteig? Crazy!“
       
       29 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Köpf
       
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