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       # taz.de -- Erster Weltkrieg im Theater: Das große Rauschen des Krieges
       
       > Luk Perceval inszeniert am Thalia in Hamburg „Front“ – frei nach Romanen
       > von Erich Maria Remarque und Henri Barbusse.
       
   IMG Bild: Polyphonie und Sprachgewirr: „Front“ folgt in der Inszenierung von Luk Perceval visuell einer strengen Anordnung.
       
       Helden sind diese Soldaten nicht, eher ziemlich gewöhnliche Menschen.
       Kräftig derb wirkt der eine, als sei er vom Acker direkt an die Front
       geholt. Ein anderer ist noch ganz jung mit weichem, unschuldigem Gesicht.
       Dem dritten schlottert der Anzug um die Knochen.
       
       In Reihe hocken sie vorn an der Bühne auf Kisten, ganz unterschiedliche
       Typen, wie willkürlich aus der Masse gegriffen. Verkörpert von neun
       Schauspielern, darunter Größen wie Bernd Grawert und Burghart Klaußner.
       Aber auch flämisch- und französischsprachige Schauspieler hat der in
       Belgien geborene Regisseur Luk Perceval für „Front“ zusammenholt, sein
       Theaterprojekt über den Ersten Weltkrieg.
       
       Bereits mit der Premiere am Thalia Theater Hamburg steht fest, dass „Front“
       für satte dreißig Gastspiele durch Europa reisen wird. Auch nach Sarajevo,
       wo das Attentat auf den österreichischen Thronfolger zwischen den
       rivalisierenden Großmächten einst den Ersten Weltkrieg auslöste.
       
       Das Sprachgewirr auf der Bühne ist Konzept. Für die geballte
       Schauspielerklasse wird jedoch überraschend reduziert gespielt. Ein
       Assoziations-, Klage- und vor allem Klangraum ist die Inszenierung – vom
       Stoff her ergibt das Sinn.
       
       ## Sterben und Überleben
       
       Luc Perceval hat für seine Textcollage sowohl diverse Zeitdokumente
       verwendet als auch Passagen aus Romanen von Erich Maria Remarque, „Im
       Westen nichts Neues“, und Henri Barbusse, „Das Feuer“. Was dort ungeschönt
       beschrieben ist, wiegt schwer und ist realistisch kaum spielbar: die
       Schreie der Verwundeten, das Sterben, der Dreck im Schützengraben, die
       Langeweile des Wartens, aber auch Überlebensinstinkt und zähe Hoffnung.
       
       Davon geben die Schauspieler immer wieder Bericht ab, festgezurrt auf einen
       minimalen Aktionsradius. Erhebt sich einer von seiner Sitzkiste, geht er
       schnell wieder in Deckung, eine Choreografie hochkonzentrierter Körper bis
       in die kleinste Mimik der Gesichter.
       
       Umso mächtiger klotzt das Bühnenbild. Hunderte Zinnkacheln hat Annette
       Kurz, die für Perceval immer wieder atmosphärisch aufgeladene
       Installationen baut, zu einer riesigen Metallwand zusammengefügt hat. Live
       bearbeitet der Musiker Ferdinand Försch die Rückwand, reibt, schlägt, stößt
       das Metall, entlockt verstörende Laute, die eine apokalyptische Stimmung
       erzeugen. Und auch die Spieler kommen anfangs wie Musiker auf die Bühne,
       knipsen an Notenständern kleine Leselampen an, als seien ihre Stimmen nur
       Teil einer Polyfonie, so nennt Perceval den Abend im Untertitel.
       
       ## Akustisches Dauergewitter
       
       „An der Front gibt es keine Stille“, sagt Paul Bäumer einmal,
       erzählerischer Protagonist, gespielt von Bernd Grawert, der wie die anderen
       im Bann dieses akustischen Dauergewitters steht, das die Inszenierung
       bestimmt. Immer wieder richten die Schauspieler stiere Blick nach vorn,
       allen voran Grawert, mit jeder Faser heruntergebrochen auf die Instinkte,
       die das Überleben sichern. Blicke, gleichsam stumpf wie ängstlich, mit halb
       offen erstarrten Mündern, als würden sie kaum erspähen und doch genau
       hören, welches Grauen in der Ferne lauert.
       
       Die wachsende innere Erstarrung inmitten schwellenden Schreckens ist das
       Gesetz, auf den der Abend mit aller Macht angelegt ist. Selbsterhaltung,
       Egoismus, der Drang nach Schlaf, Essen, Trinken, die menschlichen Urtriebe
       setzen sich durch, davon ist immer wieder die Rede, und wer nicht die
       Gefühle verliert, den treibt es in die Wahnsinn. Katelijne Verbeke
       schleicht in der Mutterrolle immer suchender über die Bühne, mit jedem
       Sohn, den sie verliert.
       
       Dass all dieses Leid einmal real war, daran mahnen halbdokumentarische
       Fotoprojektionen, die an der Rückwand laufen: Soldaten in den
       Schützengräben, verwundete Gesichter, zerstörte Landschaften, auch mal
       wilhelminische Militärführer in hochdekorierter Ausgehuniform, Bilder einer
       Epoche Europas, zu deren politischer Gespaltenheit im Moment wieder
       Parallelen gezogen werden. Perceval beschwört im Programmheft die Vorsicht,
       mit der man die Situation in der Ukraine lösen muss: denn wo keine
       Argumente mehr zählen, kommt die Kriegslogik in Gang.
       
       In seinen jüngsten Inszenierungen nach Hans Fallada hat der Regisseur
       einfache Menschen gezeigt, in ihrer Bandbreite von totaler Aufrichtigkeit
       bis buckelnden Untertanengeist. „Front“ schließt daran an, zeigt, was der
       Krieg mit denen macht, die in vorderster Front kämpfen, aber schießt in
       seinem Mitteleinsatz weit über das Ziel hinaus. Gerät zum Kraftakt in
       düsterer Mollstimmung, die auf halber Strecke ins Monotone kippt. Man nimmt
       dem Abend die ernst gemeinte Trauer über das Leid ab, aber weniger
       Überwältigungsfuror wäre mehr gewesen.
       
       25 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Kaempf
       
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