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       # taz.de -- Deutsche Friedensbewegung und Ukraine: Auch eine Stimme ist eine Stimme
       
       > Die Friedensbewegung ist alt geworden – und fast verstummt. Fehlt es der
       > jungen Generation am Bewusstsein für die Gefährdung der Welt?
       
   IMG Bild: Den Frieden nicht aus dem Blick verlieren.
       
       Eva Quistorps Herz ist krank. „Aber ich atme noch“, sagt die 68-jährige
       Mitgründerin der Grünen, die sich immer für Frauen, für Umwelt, gegen
       Atomkraft engagierte. Und – obwohl sie für den Nato-Einsatz in Bosnien war
       – vor allem für Frieden. Auf der Kundgebung vor dem Auswärtigen Amt in
       Berlin am 20. Februar, dem „schwarzen Donnerstag“, als in Kiew auf dem
       Maidan mindestens 70 Menschen starben, hatte sie einen Herzanfall. Sie
       wusste, dass sie einen Herzfehler hatte, aber die Aufregung war an diesem
       Tag zu groß. Der Rettungswagen brachte sie ins Krankenhaus.
       
       Nun, nach der Operation, gehe es einigermaßen, und das, wofür sie brennt,
       wird wieder wichtig: „Da waren fast nur Leute, die aus der Ukraine stammen,
       auf der Demo“, sagt sie, „drei Deutsche außer mir.“ Als sei der Frieden
       nicht in Gefahr, als gehe die Deutschen, was in der Ukraine passiert,
       nichts an.
       
       Ist Frieden, Peace, Pace, Paix, Mir – ist das große Wort also klein
       geworden?
       
       Nein, sie widerspricht, „ich darf mich nicht aufregen“ nein, Frieden sei
       nie klein, in Moskau haben am Samstag, sie meint den 15. März, fast 50.000
       für Frieden, für die Integrität der Ukraine und gegen russische
       Expansionspläne demonstriert. Da hat sie recht, wenn 50.000 Frieden sagen,
       dann ist das groß. Aber in Deutschland gibt es bisher keine
       Demonstrationen, um mit Nachdruck klarzumachen, dass eine Eskalation
       verhindert werden muss.
       
       Schrumpft da „Frieden“ nicht auf Poesiealbumgröße? Und sind nicht
       stattdessen Wörter wie Geostrategie, Öl, Oligarchie, Nato,
       Assoziierungsabkommen, Pipeline, Drohne von stattlichem Maß? Sofort sieht
       Quistorp wieder das Positive: „Auch eine Stimme ist eine Stimme.“
       
       Dass die Situation gefährlich ist, leugnet niemand: Nato-Flugzeuge in
       Polen, Abspaltung der Krim, Expansionsdruck Putins, amerikanische Drohnen
       über dem Schwarzen Meer, Abhängigkeit der Krim von ukrainischer
       Infrastruktur, gebrochene Verträge, rechtsradikale Kräfte in der
       ukrainischen Übergangsregierung, Vielvölkerstaat, prorussische Milizen in
       der Ostukraine, ein Putin, der Schwäche mit Feldherrenmacht ausgleicht, und
       ein Westeuropa, das mehr für seinen wirtschaftlichen Einfluss in Osteuropa
       tut als für Menschenrechte – es wird nicht viel brauchen, um die Spannung
       zu verschärfen. Und keine Friedensdemonstrationen der Deutschen. Noch
       nicht. Warum nicht?
       
       ## Kollektives Trauma
       
       Einer der Gründe: Was in der Ukraine passiert, ist komplex, kaum zu
       durchschauen. Der Maidan stand für den Wunsch nach einer Öffnung zum
       Westen, aber jetzt dräut mit den rechten Swoboda-Leuten, die in Kiew nun
       mitregieren, chauvinistische Backlash.
       
       Und dann war da noch die Europäische Union, die unterschätzte, dass die
       Ukraine nicht einfach mal so ihre geopolitischen Koordinaten nach Westen
       ausrichten kann, ohne dass das Gegenreaktionen Russlands hervorruft.
       Bemühungen, die jetzt unternommen werden, um eine Eskalation zu verhindern,
       hätten viel früher geführt werden müssen. Möglicherweise ist es Kalkül,
       aber am ehesten stecken die Linken den Finger in diese Wunde.
       
       Ein anderer Grund, warum es bisher keine Friedensdemonstrationen gibt: Die
       deutsche Bevölkerung kann im Moment sicher sein, dass niemand in der EU
       eine militärische Intervention in der Ukraine will. Stattdessen wird – und
       das ist der einzig richtige Weg – auf Diplomatie gesetzt. Angela Merkel
       kommt dabei eine große Rolle zu. Sie ist die Übermutter, die das Unheil von
       den Deutschen abhalten soll, eine, die Putin auf Russisch die Leviten lesen
       soll.
       
       Es gibt ein Bild von Käthe Kollwitz, auf dem ängstlich blickende Kinder
       sich unter der großen Mutter, die schützend ihre Arme um sie hält,
       verstecken. Merkel ist diese Matrone, aber die, die sie schützt, haben
       vergessen, dass sie keine Kinder, sondern Bürger und Bürgerinnen sind. Sie
       entmündigen sich selbst, fordern nicht von sich aus: „Wir wollen
       Deeskalation, wollen Verhandlungen, wollen Frieden, wollen nicht den
       Scharfmachern aufsitzen, nicht in Putin nur das Böse und im Westen nur das
       Gute sehen.“ Es würde auch Merkels Position stärken, wenn dies breit zum
       Ausdruck gebracht würde.
       
       Wenig hilfreich ist übrigens zudem, dass die Opposition, die Grünen und die
       Linken also, die je auf ihre Art Friedensmanifestationen immer gestärkt
       haben, sich jetzt auf Kosten der jeweils anderen Partei versuchen zu
       profilieren. Da bleibt am Ende gar keine Stimme. Das zeigt die deutsche
       Geschichte gut.
       
       Es gibt noch weitere Gründe für die Abwesenheit der Friedensbewegung.
       Einer: Die, die sie lange getragen haben, weil, selbst wenn sie
       Nachgeborene waren, der Zweite Weltkrieg ihre Biografien bestimmt hat, sind
       mittlerweile alt. Die Kriegserfahrung wurde in die Nachkriegsgeneration
       tradiert, aber für die Enkel- und Urenkelgeneration ist der Zweite
       Weltkrieg kein kollektives Trauma mehr.
       
       ## Kollektive Träume
       
       Es gibt noch ein berühmtes Bild von Käthe Kollwitz. Eine Frau mit
       ausgestreckter Hand. „Nie wieder Krieg“ steht darüber. Der weiblichen Figur
       sind die Kriegserfahrung auf die Haut geschrieben. Die Älteren können sich
       mit dieser Abgebildeten identifizieren. Für Jüngere bleibt die
       Identifikation abstrakt.
       
       Albrecht Müller von den Nachdenkseiten formuliert es so: „Die Träger der
       früheren Friedensbewegung und der Studentenbewegung haben es nicht
       geschafft, ihre Aufmerksamkeit … und ihren kritischen Verstand und ihr
       Interesse am Allgemeinwohl und vor allem am Frieden an die nächste
       Generation weiterzuvermitteln.“ Das solle nicht bedeuten, dass die
       nachkommende Generation nicht an Frieden interessiert sei, aber es fehle
       das Bewusstsein für die Gefährdung dieser wunderbaren Welt.
       
       Dem Generalsekretär der CDU Peter Tauber ist auch aufgefallen, dass etwas
       fehlt. „Wo bleibt die deutsche Friedensbewegung?“, fragt er in einer
       Polemik in der Welt und schüttet in der Folge viel Häme über
       Ostermarschierer und die Friedensbewegung aus. Seine Analyse: Niemand geht
       derzeit auf die Straße, weil sich der Protest nicht „gegen die Amerikaner,
       Israel oder die Bundeswehr“ richten würde, sondern gegen Putin.
       
       Er meint, es sei der Friedensbewegung nie um Frieden gegangen, sondern
       immer nur um linke Ideologie. Dass er alle Strömungen der Friedensbewegung,
       die Teile der CDU und der Kirchen einschließen, in einen Topf wirft, ist
       ihm egal. Und warum er, wenn er Friedensdemonstration vermisst, diese nicht
       selbst initiiert, ebenso.
       
       Montagabend, am 17. März vor der russischen Botschaft in Berlin. Etwa
       hundert, meist ukrainischstämmige Leute. „Putin stoppen“ – „Kein Krieg in
       der Ukraine“ – solche Plakate haben sie dabei. „Die Leute haben Angst, dass
       es zum Bürgerkrieg kommt“, sagt einer, dessen Familie in Lwiw wohnt.
       Ukrainische Künstler, Literaten, Maidankämpfer sprechen über die Sehnsucht
       nach Aufbruch und die jetzige Angst.
       
       Rebecca Harms und Marieluise Beck von den Grünen sprechen über zerschlagene
       Hoffnung und dass sie für ein modernes Russland sind, eins, in dem
       Menschenrechte gelten. „Die gefallen sich in ihrer Rolle“, sagt eine
       weißhaarige Frau über die Grünen-Politikerinnen. Außer ihr sind vielleicht
       noch drei, vier Deutsche da. Von den „Müttern gegen Krieg“ sei sie, „aber
       unsere Stimme wird im Friedensprozess nicht eingefordert“. Auf die Frage,
       warum sie die einzige auf der Kundgebung sei, sagt sie, „ja warum“ – und
       „wir sind alt geworden.“
       
       23 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Waltraud Schwab
       
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