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       # taz.de -- Ausstellung "Spuren der Moderne": Wenn die Begriffe hoch fliegen
       
       > Wie's die Kunst der Gegenwart mit der "klassischen Moderne" hält, zeigt
       > eine Ausstellung in Wolfsburg - inhaltlich etwas vage, sinnlich umso
       > anregender.
       
   IMG Bild: Programmatisches Zusammentreffen: Michel Majerus' "What looks good today may not look good tomorrow" (l.), Neo Rauch, "Regel" (hinten) und Jeppe Heins "Spiral Labyrinth (1)".
       
       WOLFSBURG taz | Das Kunstmuseum Wolfsburg begeht dieses Jahr sein
       20-jähriges Jubiläum. Eröffnet hat es am 28. Mai 1994 mit einer großen
       Werkschau des französischen Künstlers Fernand Léger – bezeichnender Titel:
       „Der Rhythmus des modernen Lebens 1911–1924“. Gründungsdirektor Gijs van
       Tuyl, der das Museum 2005 leitete, ließ damals ein kleines Heftchen zum
       Mitnehmen drucken. Darin ließ er den niederländischen Künstler Gerard
       Hadders die wahre Geschichte des Minotaurus erzählen.
       
       ## Elf Jahre lebhafter Kunstschauen
       
       Der griechischen Sage nach floh der Baumeister und Erfinder Dädalus, nach
       einem begangenen Mord, auf die Insel Kreta. Hier musste er für König Minos
       ein Labyrinth bauen: Minos’ Gattin, in irrsinniger Liebe einem schönen und
       intelligenten Stier verfallen, hatte ein Wesen zwischen Mensch und Tier
       geboren, das es dort fortan diskret zu halten galt: den Minotaurus.
       
       Im weiteren Verlauf der Geschichte tötet bei Hadders aber nun nicht Theseus
       im Labyrinth die stigmatisierte Kreatur, diese wird vielmehr, bedingt durch
       einen posteiszeitlichen Anstieg des Meeresspiegels, die Beute eines
       mechanischen Seeungeheuers: des Leviathan. In dessen Bauch lässt es sich
       Minotaurus gut gehen, Leviathan indes findet nicht mehr hinaus aus dem
       gefluteten Labyrinth. Das Seeungeheuer, nebst Wissen um sein Innenleben,
       wurde in Wolfsburg zu einem pinkfarbenen Wal als eine Art Logo – und
       Gleichnis für die ersten elf Jahre lebhafter, internationaler Kunstschauen
       im Kunstmuseum.
       
       Derartige Phantastereien waren nicht Sache des Direktors Markus Brüderlin,
       der das Haus 2006 übernahm und gerade überraschend verstarb: Mit
       akademischer Stringenz verordnete er dem Museum ein ästhetisches
       Suchprogramm zur Moderne im 21. Jahrhundert. Neben großen Themenprojekten –
       zuletzt ging „Kunst und Textil“ den Wurzeln der Abstraktion im (Kunst-)
       Handwerk nach –, unternimmt das Museum zyklisch Erkundungen seiner eigenen
       Sammlung.
       
       Derzeit werden in Wolfsburg die „Spuren der Moderne“ aufgedeckt:
       künstlerische Rückgriffe auf die sogenannte klassische Moderne ab dem Ende
       des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Wolfsburger Sammlung
       repräsentiert durch rund 400 Exponate gut 50 Jahre Kunstproduktion von den
       1960er-Jahren bis zur Gegenwart. Die aktuelle Ausstellung umfasst 34
       Arbeiten von 30 Künstlern und ist auf 1.000 Quadratmetern im oberen Umlauf
       des Museums zu sehen.
       
       Beim Begriff Moderne ergeben sich freilich definitorische Unschärfen.
       Kuratorin Uta Ruhkamp schickt ihren Ausführungen zum Ausstellungskonzept
       ein Zitat von Charles Baudelaire voraus: Der Schriftsteller sah 1863 die
       Modernität als das Vergängliche, Flüchtige und Zufällige, das die eine
       Hälfte der Kunst ausmache; die andere Hälfte sei das Ewige und
       Unwandelbare.
       
       Diesem dialektischen Kunstbegriff setzt Ruhkamp nun Stilpluralismus
       entgegen; demnach hätte die Moderne in sich schon eine wesentlich offenere
       Praxis angelegt gehabt. Zudem hat sie ganz neue Gattungen hervorgebracht,
       die Beschäftigung mit Naturphänomenen zum Beispiel, und neue Protagonisten
       wie den Ingenieurkünstler.
       
       Zu all dem finden sich nun Belege aus der Sammlung ausgestellt: vom Porträt
       über die gegenständliche Malerei, von Architektur und Design bis zu
       Aufklärung und Spiritualität. Bezeugen sollen sie einen fortwährenden
       Rückgriff in die Kunstgeschichte unter dem Mantel eines andauernden
       Projektes namens – Moderne.
       
       Was inhaltlich so vage bleibt und zu Widersprüchen reizt, ergibt aber einen
       ästhetisch und sinnlich anregenden Ausstellungsgang: In den Wolfsburger
       Depots schlummern einige kunsthistorische Meilensteine, auch wenn die
       Sammlung mittlerweile nur noch einen verhaltenen Zuwachs aufweisen kann,
       wie Sammlungskurator Holger Broeker die finanziellen Prioritäten
       diplomatisch umreißt.
       
       Seine Schätze sporadisch zu präsentieren, macht indes den hoheitlichen
       Auftrag eines Museums sichtbar: Durchs systematische Sammeln unterscheidet
       sich ein Museum vom reinen Ausstellungshaus.
       
       ## Programmatische Zusammentreffen
       
       Am Beginn des Rundgangs hängt nun eine Acrylarbeit des Luxemburgers Michel
       Majerus. Der Titel „What looks good today may not look good tomorrow“ – in
       etwa: was heute als schön gilt, muss das morgen nicht auch tun – knüpft an
       die flüchtige Modernität im Sinne Baudelaires an, wird aber sofort
       relativiert durch das programmatische Zusammentreffen des Majerus-Bildes
       mit einem Spiegellabyrinth von Jeppe Hein und einem großen Rundbild von Neo
       Rauch.
       
       Letzterer sieht als Grundessenz der Moderne den Zweifel und das Misstrauen
       gegenüber allem unumgänglich Gesetztem und formuliert ihn mittels
       gegenständlicher Malerei. Der Däne Hein hingegen sucht einen partizipativen
       Aspekt: Der Museumsbesucher selbst verwandelt die formal strenge
       Installation in ein unberechenbares Vexierbild.
       
       Um Klarheit der Strukturen geht es Andreas Gursky: So will er in seinen
       großformatigen Fotografiemontagen die Übersicht behalten. Die geht im
       „Lalibela Kabinett“ von Philip Taaffe dann aufs Schönste wieder verloren:
       Der US-Amerikaner legt die ornamentalen Wurzeln der Moderne frei und
       bedeckt die Wände mit 384 Tier- und Pflanzenmotiven. Im Anschluss steht
       Ólafur Elíasson mit einer installativen Spektralanalyse für ein
       naturwissenschaftliches Interesse der Moderne, Rebecca Horn für ein
       technisch-apparatives.
       
       Am Ende dann einer der allerersten Ankäufe des Museums: der 1994 erworbene
       filigrane Flugapparat des Belgiers Panamarenko. Wer hier erneut an Dädalus
       sowie seinen Sohn Ikarus auf Kreta denkt, entdeckt vielleicht eine ganz
       geheimnisvolle Spur der Wolfsburger Sammlung: den väterlichen Rat, nicht zu
       hoch aber auch nicht zu tief zu fliegen, da sonst die Hitze der Sonne zum
       Absturz führen, oder die Feuchte des Meeres.
       
       „Spuren der Moderne“: bis 19. Oktober, Kunstmuseum Wolfsburg
       
       20 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Maria Broswsky
       
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