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       # taz.de -- Flüchtlinge in Deutschland: Wie wir die Hodzics retteten
       
       > Was bei den Syrern so schwierig scheint, war in Bosnien durchaus möglich.
       > Die Initiative „Den Krieg überleben“ evakuierte über 8.000 Menschen.
       
   IMG Bild: Bosnische Flüchtlinge im Jahr 1997.
       
       BERLIN taz | „Angst“ – dieses Wort fällt Alma Hodzic* als Erstes ein, wenn
       sie sich an den Herbst 1993 erinnert. „Es war seit eineinhalb Jahren Krieg
       und genauso lange wurde extremer Druck auf uns Nichtserben ausgeübt.“ Über
       50 Prozent der 4,4 Millionen Einwohner Bosnien-Herzegowinas waren aus ihren
       Städten und Dörfern geflohen. Die Hälfte irrte innerhalb des umkämpften
       Landes umher; die anderen hatten es immerhin ins friedliche Ausland
       geschafft.
       
       Die damalige Situation der bosnischen Flüchtlinge ähnelt in vielerlei
       Hinsicht der der Syrer, die heute auf der Flucht vor dem Krieg in ihrem
       Land sind: Die Lage zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen im Land
       ist unklar; und auch auf den ersten Blick vermeintlich sichere Landesteilen
       können sich quasi über Nacht in gefährliche Brandherde verwandeln.
       
       Alma war 16 und lebte mit ihrer Familie in einer Kleinstadt im serbisch
       kontrollieren Westbosnien. Dort wurde nicht gekämpft – aber den Hodzics
       ging es trotzdem nicht gut. Die Mutter, eine Lehrerin, war entlassen
       worden.
       
       Die Behörden der Serbischen Republik hatten die erklärte Atheistin,
       langjähriges Mitglied der kommunistischen Partei Jugoslawiens, wegen ihrer
       muslimischen Vorfahren als unzuverlässig eingestuft. Dabei hatten die
       Hodzics nicht, wie so viele Nachbarn mit muslimischem Namen, bei der
       serbischen Machtübernahme ihre Heimat verlassen, um in sichere, von der
       bosnischen Armee kontrollierte Gebiete zu fliehen. Der Vater, ebenfalls
       Kommunist, wollte den neuen Herrschern zeigen, dass er kein islamischer
       Fundamentalist war, sondern ein loyaler Bürger.
       
       ## Ausreisen mit Bussen
       
       Doch die glaubten ihm nicht. Erst verlor Herr Hodzic seine Arbeit. Dann
       wurde er von der Armee der bosnischen Serben eingezogen. Dort erhielten die
       abfällig als „Türken“ bezeichneten „muslimischen“ Soldaten zwar dieselben
       Uniformen wie die serbischen – aber keine Waffen. So mussten sie
       Schützengräben ausheben. In Sichtweite der bosnischen Linien. Als lebende
       Zielscheiben.
       
       Währenddessen spitzte sich auch zu Hause die Situation zu. „Wir bekamen
       dauernd Besuch von der serbischen Polizei“, erzählt Alma. „Erst nahmen sie
       unser Auto – als freiwillige Spende für ihre Armee. Später wollten sie den
       Kühlschrank, dann den Fernseher. Und fragten immer öfter, wann das Haus
       endlich leer sein würde.“
       
       Dann sollte Almas Vater erneut zur Armee. „Das ging auf keinen Fall, er
       hatte schon den ersten Einsatz gerade so überlebt hatte“, erinnert sich die
       heute 37-Jährige. „Uns wurde klar, dass wir aus Bosnien raus mussten.“ Aber
       wie? Individuell reisen durften Nichtserben in der Serbischen Republik
       nicht. Über Verwandte hatten die Hodzics von einer Hilfsorganisation
       gehört, die Ausreisen mit Bussen organisierte.
       
       ## „Den Winter überleben“
       
       Die Initiative „Den Krieg überleben“ war im Jahr zuvor in Bonn von einem
       Aktionsbündnis gegründet worden. Motor war der Journalist Martin Fischer,
       der zuvor bei Recherchen Zeuge der brutalen ethnischen Säuberung in
       Serbisch-Bosnien geworden war. Angesichts der internationalen
       Friedensbemühungen war Fischer damals sicher, dass der Krieg bald zu Ende
       sein würde. Wie heute in der verwirrenden Kriegslage in Syrien ging es auch
       in Bosnien darum, bis dahin so viele Menschenleben wie möglich zu retten.
       
       Am 15. Dezember 1992 erschien in der taz unter der Überschrift „Den Winter
       überleben“ ein Aufruf. Privatpersonen, Kirchengemeinden, Friedens- und
       Menschenrechtsgruppen sollten sich melden, wenn sie bereit wären,
       Flüchtlinge aus Bosnien zu sich einzuladen – unter Übernahme aller Kosten.
       Bei Kriegsbeginn hatten die deutschen Innenminister eine Visapflicht für
       Bosnier eingeführt. Um ein Visum zu bekommen, brauchten diese Menschen nun
       eine Einladung einer in Deutschland gemeldeten Person.
       
       Der Haken: Die Einladenden mussten eine Kostenübernahme unterschreiben, die
       jede noch so große Arztrechnung einschloss. Trotz dieses Risikos meldeten
       sich Hunderte potenzielle Gastgeber. Nur zwei Wochen nach dem Aufruf kam
       die erste Gruppe Flüchtlinge an. Doch der Krieg endete nicht, wie Fischer
       und seine Mitstreiter gehofft hatten, mit dem Winter. Im Gegenteil: Die
       Lage in Bosnien wurde in den folgenden Monaten immer schlimmer. Und immer
       mehr Menschen waren bedroht.
       
       ## Nach Kriegsende 1996 zurück
       
       „Den Krieg überleben“ mietete ein ehemaliges Kulturhaus in einer
       kroatischen Kleinstadt nahe der bosnischen Grenze. Dort warteten zeitweise
       550 der über 8.000 Menschen vor allem muslimischer und kroatischer
       Abstammung, die die NGO bis Kriegsende Anfang 1996 aus dem serbisch
       besetzten Bosnien evakuierte, darauf, dass Gastgeber für sie gefunden
       wurden – darunter die Hodzics, die im Frühjahr 1994 in einem der Busse
       Martin Fischers über die bosnische Grenze gebracht worden waren.
       
       An die Fahrt erinnert sich Alma auch über 20 Jahre später nur ungern. „Es
       war ein Horrorfilm: Dauernd wurden wir kontrolliert, und dabei wurde uns
       jedes Mal noch etwas abgenommen. Am Schluss haben die serbischen Grenzer
       sogar den Kindern im Bus ihre Schokolade ’konfisziert‘.“ Es dauert noch
       sechs Monate, bis Martin Fischer endlich eine Familie gefunden hatte, die
       bereit war, die Hodzics aufzunehmen.
       
       „Zuerst haben wir in einem kleinen Dorf gelebt“, erinnert sich Alma, „das
       war gut, weil ich dort schnell Deutsch lernen musste.“ Sie ging aufs
       Gymnasium, machte Abitur und studierte Germanistik. Heute ist sie deutsche
       Staatsbürgerin, hat zwei Kinder, einen deutschen Nachnamen und arbeitet als
       Lehrerin.
       
       Die Eltern sind nach Kriegsende 1996 zurück in ihre Kleinstadt gegangen.
       „Sie sind Rentner“, berichtet Alma, „die wirtschaftliche Lage ist
       katastrophal, von den Renten kann man gerade mal die Nebenkosten bezahlen.
       Gut, dass ich im Ausland lebe und sie unterstützen kann.“ Was empfindet sie
       heute, wenn sie an ihre Flucht, Martin Fischer und „Den Krieg überleben“
       denkt? „Dankbarkeit“, sagt Alma Hodzic ohne zu zögern.
       
       * Vor- und Nachnamen der Personen geändert
       
       23 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rüdiger Rossig
       
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