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       # taz.de -- Kolumne Trends & Demut: Tarnkappenzeit is over
       
       > Endlich ist es mit dem pseudoeinheitlichen Konsensnebel vorbei. Der Dunst
       > aus eingeübter Toleranz löst sich gerade auf: Ring frei!
       
   IMG Bild: „Wer jetzt nicht beginnt mitzustreiten, ist selber schuld.“
       
       Vor ein paar Jahren unterhielt ich mich auf einem Empfang mit einem älteren
       Herrn, ehemaliger Museumsdirektor und ein Bildungsbürger wie aus Stein
       gemeißelt. Er interessierte sich total für meine Herkunft („Ja, ja, in
       Mainz geboren, verstehe, aber wo kommen Sie denn nun wirklich her?“), und
       den Fakt, dass ich ihm aufgrund meiner Adoption nicht sagen konnte, wo
       genau ich herkam, fand er absolut unfassbar.
       
       Ein Mensch muss doch wissen, wo er herkommt! Er redete sich in aggressive
       Champagnerlaune und kam irgendwann auf seine beschnittenen Bürgerrechte zu
       sprechen.
       
       Nichts dürfe man mehr sagen, alles sei verboten. Rauchen in Restaurants,
       Worte wie „Türke“ oder eben auch „N.“. Doch sein „N.“ lasse er sich nicht
       verbieten! Ich und mein Begleiter nahmen ihn daraufhin hart, aber herzlich
       in die Mangel, woraufhin er den Rest des Abends in der Ecke saß und
       schmollte. Er fühle sich beschissen. Dass schwarzen Menschen dieses Wort
       irgendwie unangenehm sei, ja, es ihnen vielleicht sogar wehtun könnte, das
       sei ihm erst jetzt, wo ich so live vor ihm stand, klar geworden.
       
       Das ist sieben Jahre her, ich lebte in London und dachte, mei, Deutschland
       hat halt noch sehr viel nachzuholen und er gehört zur alten Generation,
       die’s eh nicht besser weiß. Jetzt wohne ich ja wieder in Deutschland und
       stelle fest, dass die Dinge sich verändert haben. Wer heute „N.“ sagt,
       „Migranten haben alle keine Bildung“ oder „Schwule sind mir unangenehm“,
       tut das nicht mehr, weil er es nicht besser weiß, sondern weil er es nicht
       anders will. Das post-politisch-korrekte Lebensmotto lautet nun
       anscheinend: Ich denke, was ich will, und nun sage ich es auch noch.
       
       ## Opfer erster oder zweiter Klasse
       
       Und wenn ich zufällig eine Person von öffentlichem Interesse bin, umso
       besser! Ab auf die Bühne, aufs Podium, in die Pressekonferenz oder auf
       Facebook. Meine Ansichten gibt es jetzt für jeden im Mainstream live! Zum
       Mitschreiben, Liken, Sharen und Nachplappern. Es kommt mir vor, als hätten
       sich alle ihre politisch-korrekten Tarnkappen vom Kopf gerissen, und
       plötzlich quillt überall und ungeniert das Böse hervor. „Die
       BRD-Gemütlichkeit ist definitiv vorbei, jetzt zeigen die Leute ihr wahres
       Gesicht“, stellte ein Freund fest. Und ehrlich? Gut so und nur raus damit!
       
       Denn endlich stochert man nicht mehr im pseudoeinheitlichen Konsensnebel
       herum, sondern sieht mit Klarheit, wie gruselig es wirklich ist. Wie viele
       Menschen Frauen hassen, künstliche Befruchtung pervers finden oder nun
       endlich und wie befreit zugeben, dass sie als Intellektuelle keinen Bock
       haben, mit den Migranten aus der Nachbarschaft abzuhängen. Je klarer diese
       tatsächlichen Meinungen nun rauskommen, desto besser kann man sie angehen
       und bearbeiten.
       
       Der Nebel aus eingeübter Toleranz löst sich gerade auf, ein bisschen so wie
       der Schnee am 2. Januar schmilzt und darunter Massen an Feuerwerksknallern
       und Hundescheiße zum Vorschein kommen. Man sieht klarer, aber die
       Konfrontation, durch die man sich jetzt wühlen muss, wird zäh und hässlich,
       klar. Denn die Zeiten, in denen Leute nicht wussten, dass Worte wie „N.“
       beleidigend sind, und aus allen Wolken fielen, wenn man es ihnen sagte,
       sind halt total vorbei. Jetzt geht es plötzlich nur noch um Opfer erster
       oder zweiter Klasse: Ich kann ja sogar nachvollziehen, dass dich das Wort
       beleidigt, aber du musst auch mich verstehen!
       
       Ich will mich nicht in meinen Bürgerrechten beschneiden lassen und
       irgendwann gar nix mehr sagen dürfen, nur weil alles verboten ist! Sieben
       Jahre nachdem ich den Exmuseumsdirektor beim Empfang traf, ist der Ring nun
       also frei. Wer jetzt nicht beginnt mitzustreiten, ist selber schuld.
       
       20 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Grosse
       
       ## TAGS
       
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