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       # taz.de -- Interview mit Daniel Kehlmann: „Glauben? Lieber nicht“
       
       > Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat sonst allen Platz der Welt, um
       > sich auszudrücken. Im Stichwort-Interview fasst er sich kurz. Snowden?
       > Simpsons? Seitensprung?
       
   IMG Bild: Schreiben? „Das Einzige, was ich kann. Außer zaubern, was ich aber nicht gut kann.“
       
       ## Erste Erinnerungen
       
       Eine Fiktion. Bei frühen Erinnerungen gibt es keine Reihenfolge, sie sind
       nicht datiert.
       
       ## Kindheit
       
       Die Zeit des intensivsten Lebens.
       
       ## Jesuitenschule
       
       Stimmt, ich war auf einer. Christliche Indoktrinierung fand dort nicht
       statt, nur dann und wann forderte man uns auf, nach Südamerika zu gehen und
       Revolution zu machen. Vielleicht hätte ich das tun sollen.
       
       ## Jüdische Abstammung
       
       Umschreibt man im Feuilleton inzwischen auch gern wieder mit „Kosmopolit
       ohne Wurzeln“.
       
       ## Vater-Sohn-Beziehung
       
       Eines der großen Themen der Literatur, aber Mutter-Tochter-Beziehungen sind
       wahrscheinlich schwieriger.
       
       ## Zauberkunst
       
       In der Hand eines Könners gibt es nichts Schöneres. Dann ist sie kein
       bloßes Entertainment, sondern steht gleichwertig mit Musik und Malerei.
       
       ## Schreiben
       
       Das Einzige, was ich kann. Außer zaubern, was ich aber nicht gut kann.
       
       ## Vorwurf: „leicht konsumierbar“
       
       Ein Vorwurf an mich? Wusste ich gar nicht. Ich dachte, mein offizieller
       Vorwurf wäre: zu konstruiert, zu intellektuell. Da müsste man sich aber mal
       entscheiden.
       
       ## Schönster Satz
       
       Jeder einzelne von Kleist.
       
       ## Literarische Vorbilder
       
       Die Frage ist wichtig, aber auch langweilig. Ich könnte darüber reden, dass
       jedes gute Buch einem zum Vorbild werden kann oder dass Autoren, die einen
       prägen, oft gerade die sind, von denen man sich in Bewunderung abgrenzen
       möchte, oder … Aber ich muss selbst gähnen, und ich habe gottlob nur drei
       Sätze.
       
       ## Überschätzte Autoren
       
       Ich dachte immer, Böll wäre überschätzt, aber neulich habe ich ihn wieder
       gelesen und war überrascht, wie sehr ich ihn mochte.
       
       ## Realität
       
       Glauben Sie nicht zu fest daran.
       
       ## Fiktion
       
       Ein fester Teil der Realität.
       
       ## Literaturkritiker
       
       Neulich hat die New York Review of Books ein Faksimile ihrer ersten Ausgabe
       vor fünfzig Jahren publiziert. Über John Updikes „Centaur“, eines meiner
       Lieblingsbücher, heißt es, es sei so schlecht, dass der Ruf des Autors sich
       nicht davon erholen werde. Über Salinger, er sei eigentlich gar kein
       Schriftsteller. Hemingway wird auf fast jeder Seite beschimpft. So viel
       Wut, so viele Fehlurteile, so folgenlos, warum eigentlich?
       
       ## Deutschsprachiges Regietheater
       
       Eine Domäne lauter, oft übergewichtiger Männer in schwarzer Uniform, die
       erfolgreich den Autor vom Theater verbannt haben; jetzt arbeiten sie an der
       Verbannung des Schauspielers. Wird im Ausland nicht verstanden. Im Inland
       eigentlich auch nicht.
       
       ## Die Simpsons
       
       Ein Meisterwerk, das weiß heute schon jeder. Hat aber gedauert. Mitte der
       neunziger Jahre wurde man noch seltsam angesehen, wenn man Leuten empfahl,
       eine Zeichentrickserie anzusehen.
       
       ## Die Sopranos
       
       Eines der größten erzählerischen Kunstwerke unserer Epoche. So gut wie die
       allerbesten zeitgenössischen Romane.
       
       ## Computerspiele
       
       Theoretisch ein interessantes Thema, in der Praxis meist fantasielos und
       öde. Sie sind inzwischen so teuer in der Entwicklung, dass kaum jemand
       Experimente wagt.
       
       ## Internetsperrprogramm „Freedom“
       
       Lässt sich leicht überlisten. Wechseln Sie das Benutzerkonto, schon kommen
       Sie wieder ins Netz. Schade.
       
       ## Edward Snowden
       
       Mit jeder seiner öffentlichen Äußerungen bewundere ich ihn mehr: Er hat
       eine Weltmacht herausgefordert, er war im Recht, und er hat bisher keine
       Fehler gemacht.
       
       ## Freiheit
       
       Nietzsche sagt, die entscheidende Frage ist nicht, wovon man frei ist,
       sondern wofür. Das klingt gut, aber ich weiß trotzdem nicht, was das
       wirklich heißen soll.
       
       ## Wien
       
       Eine schöne Stadt, wenn man nicht zu lange dort bleibt.
       
       ## Berlin
       
       Eine nicht sehr schöne Stadt, die allerdings andere Vorteile hat. Ich hoffe
       übrigens, der elende Brandenburger Flughafen lässt noch ein wenig auf sich
       warten.
       
       ## Heimat
       
       Braucht ein wurzelloser Kosmopolit nicht unbedingt.
       
       ## Vater sein
       
       Eine große, schwere, wunderbare Aufgabe.
       
       ## Frauen
       
       Der klügere und interessantere Teil der Menschheit, über den ich noch zu
       wenig geschrieben habe. Vielleicht weil das auch schwieriger ist.
       
       ## Männer
       
       Was ich an Frauen allerdings nie begreifen konnte, ist, wie sie es
       ertragen, mit Männern zusammenzuleben.
       
       ## Schönheit
       
       Schwebt immer über uns, in Gestalt von Himmel, Wolken, Sonne, und wir sehen
       kaum je hin, weil wir glauben, daran gewöhnt zu sein.
       
       ## Liebe
       
       David Foster Wallace hat gesagt, man solle aus dem Teil seines Selbst
       heraus schreiben, der liebt, nicht aus dem Teil, der geliebt werden will.
       Ein sehr guter, schwer zu befolgender Rat.
       
       ## Erotik
       
       Etwas, das Literaturkritiker gerne einfordern. Finden sie es, nennen sie es
       peinlich.
       
       ## Sex
       
       Dürfen Schriftsteller über fünfzig jetzt auf keinen Fall mehr beschreiben.
       Man nennt das sonst eklige Männerfantasie.
       
       ## Seitensprung
       
       Ein Hauptthema der Literatur. Was soll ich dazu sagen? Wollen Sie mich in
       Schwierigkeiten bringen?
       
       ## Geld
       
       Wer behauptet, dass Geld nicht frei macht, hat über die Frage noch nicht
       nachgedacht.
       
       ## Erfolg
       
       Wenn man ihn hat, ist es schlecht für einen. Wenn man ihn nicht hat, ist es
       auch schlecht.
       
       ## Missgunst
       
       Früher habe ich gedacht, das wäre ein überschätztes Phänomen. Dann schrieb
       ich einen Bestseller, jetzt weiß ich es besser.
       
       ## Macht
       
       Vielleicht das Schönste am Künstlerdasein: Man hat sie nicht, man will sie
       nicht, man braucht sie nicht, man hat nichts mit ihr zu schaffen.
       
       ## Kapitalismus
       
       Nicht die einzige Möglichkeit.
       
       ## Angela Merkel
       
       Ich mag sie, aber wählen würde ich sie nicht.
       
       ## Bertolt Brecht
       
       Einer der größten deutschen Sprachschöpfer. Ich habe vor Jahren bei einem
       Brecht-Festival darüber gesprochen, wie sehr es mich betroffen macht, dass
       er im großen Bürgerkrieg zwischen russischer Regierung und russischem Volk
       aufseiten der Regierung stand; seither gelte ich absurderweise als
       Brecht-Feind. Ich kann etwa fünfundzwanzig Gedichte von ihm auswendig.
       
       ## Utopien
       
       Werden zurzeit leider hauptsächlich von Google und Facebook angeboten.
       
       ## Humor
       
       Im Unterschied zu meinem Freund Maxim Biller glaube ich nicht, dass Gott
       welchen hat.
       
       ## Träume
       
       Es gibt einen langen Traum, und es gibt kurze Träume, die ihn unterbrechen.
       Sonst gibt es eigentlich nichts.
       
       ## Sehnsucht
       
       Immer, oft weiß ich gar nicht, wonach.
       
       ## Ängste
       
       Immer, oft weiß ich gar nicht, wovor.
       
       ## Geheimnisse
       
       Sollte man haben. Die transparente Welt ist zwar die offizielle Google- und
       Facebook-Utopie, aber wir müssen widerstehen.
       
       ## Feinde
       
       Ein Künstler hat gottlob nur Leute, die auf ihn schimpfen, echte Feinde hat
       er sehr selten.
       
       ## Glück
       
       Bemerkt man erst, wenn es vorbei ist.
       
       ## Luxus
       
       Was heute Luxus ist, ist morgen Gewohnheit. Die Reizschwelle steigert sich.
       Das meint Buddha, wenn er sagt, dass alles Entstandene leer ist und nicht
       genügt. Aber Bedürfnislosigkeit ist auch keine gute Lösung. Ich gehe
       weiterhin gerne gut essen.
       
       ## Hoffnungen
       
       Da ich beim deutschen Theater wegen Regisseurkritik keine Chance habe,
       hoffe ich, dass irgendwann ein Stück von mir am Broadway aufgeführt wird.
       Träumen darf man doch.
       
       ## Lebensmotto
       
       Wer hat denn so etwas, um Gottes willen?!?
       
       ## Älterwerden
       
       Ich merke, dass mein Gedächtnis vor zehn Jahren noch besser war. Sehr
       gruselig.
       
       ## Glauben
       
       Lieber nicht.
       
       ## Gott
       
       Wie gesagt: Im Unterschied zu Maxim Biller glaube ich nicht, dass Gott
       Humor hat. Menschen haben Humor entwickelt, um es ein wenig besser
       auszuhalten, wenn Gott sie quält.
       
       16 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
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