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       # taz.de -- Kommentar Proteste in der Türkei: Heuchelei und Tränengas
       
       > Mit der Beerdigung von Berkin Elvan meldet sich die türkische
       > Zivilgesellschaft zurück. Es ist ein Schrei der Trauer und des Zorns: Es
       > reicht!
       
   IMG Bild: Istanbul am Ende des Trauerzuges für Berkin Elvan: Gas, Gas, Gas.
       
       Die Geschichte der Türkischen Republik ist reich an politischer Gewalt;
       kaum ein Datum, das nicht mit einer Bluttat verbunden wäre. Der 12. März
       zum Beispiel ist der Jahrestag des [1][Militärputsches von 1971] und
       zugleich der Jahrestag des Massakers im [2][Istanbuler Stadtteil Gazi im
       Jahr 1995].
       
       Und seit nun ist auch der Tag, an dem Hunderttausende Menschen in Istanbul,
       Ankara, Izmir und weiteren Städten Berkin Elvan das [3][letzte Geleit
       gaben], dem 15-jährigen Jungen, der nach der [4][Räumung des Geziparks] von
       einer Tränengaspatrone der Polizei getroffen wurde und am Dienstagmorgen
       nach 269 Tagen [5][im Koma verstorben ist].
       
       Es ist nicht ganz die Menschenmenge, die im Frühjahr vorigen Jahres auf der
       Straße war. Aber es sind deutlich mehr Menschen als in den vergangenen
       Wochen und Monaten, als es anlässlich der Korruptionsermittlungen immer
       wieder zu Protesten kam. Bei dem Schlagabtausch zwischen der islamischen
       Gülen-Bewegung und der AKP-Regierung war die Zivilgesellschaft in der
       [6][Zuschauerrolle]. Nun ist sie zurück, zu einem unendlich traurigen
       Anlass.
       
       Sieben Jahre nach dem Mord am türkisch-armenischen Publizisten [7][Hrant
       Dink] ist ein Teil der türkischen Gesellschaft wieder in der Trauer
       vereint, während die Anhänger der AKP und die ihr nahestehenden Medien den
       Demonstranten vorwerfen, den Tod von Berkin zu instrumentalisieren – ganz
       so, als ob Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sich nicht gerühmt hätte,
       der Polizei die Befehle erteilt zu haben, als ob der Istanbuler Gouverneur
       [8][Hüseyin Avni Mutlu] oder der Staatspräsident Abdullah Gül in den neun
       Monaten, die Berkin im Koma verbrachte, ein Wort der Anteilnahme gezeigt
       hätten.
       
       ## Gewachsene Ansprüche
       
       Das Beileid, das sie nun ausdrücken, ist verlogen. Denn es hat keine
       Konsequenzen. Es gibt keine ernsthafte Bemühung, diejenigen dingfest zu
       machen, die für Berkins Tod verantwortlich sind. Und der türkische Staat
       reagiert auf die [9][jetzigen Proteste auf dieselbe Weise], wie er seit
       Gezi stets reagiert: [10][Gas, Gas, Gas], gern auf Kopfhöhe abgeschossen.
       
       So wie die fünf unmittelbar bei den Gezi-Protesten getöteten Demonstranten
       entstammte Berkin aus der [11][alevitischen Minderheit]. Auch die Opfer des
       Massakers von 1995 waren Aleviten; der jüngste der damals von der Polizei
       erschossenen 17 Menschen, Sezgin Engin, war 16 Jahre alt, kaum älter als
       Berkin.
       
       Doch die Türkei ist nicht mehr dasselbe das Land wie 1995. Damals gab es
       einen Schießbefehl, im Vergleich dazu – und nur im Vergleich dazu – ist das
       Vorgehen der Polizei etwas weniger entfesselt. Heute trauert wenigstens ein
       Teil der Gesellschaft wegen des gewaltsamen Todes eines 15-Jährigen. Und
       die Gesellschaft von heute formuliert andere Ansprüche – Ansprüche an
       Demokratie, die einst auch die AKP formuliert hatte, ehe ihre Herrschaft
       immer autoritärere Züge annahm.
       
       Gemessen an diesen Ansprüchen aber ist es ein Skandal, dass ein 15-Jähriger
       von der Polizei getötet wird und die Regierung so tut, als handle es sich
       dabei um einen bedauerlichen Verkehrsunfall.
       
       Doch Berkin Elvan ist nicht durch die Verkettung unglücklicher Umstände
       gestorben. Für seinen Tod verantwortlich ist eine Regierung, die einst mit
       dem Versprechen angetreten ist, die [12][Gewaltgeschichte] zu beenden, aber
       sie nur um neue Kapitel ergänzt hat. Die Menschen, die auf Berkins
       Beerdigung waren, haben ihm die letzte Ehre erwiesen. Und sie haben in
       stiller Trauer oder im Zorn herausgeschrien: Yeter artık! Es reicht!
       
       13 Mar 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://de.wikipedia.org/wiki/Milit%C3%A4rputsch_in_der_T%C3%BCrkei_1971
   DIR [2] http://de.wikipedia.org/wiki/Unruhen_in_Gazi_1995
   DIR [3] /!134709/
   DIR [4] /!118199/
   DIR [5] /!134608/
   DIR [6] /!134436/
   DIR [7] /!85965/
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       ## AUTOREN
       
   DIR Deniz Yücel
       
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