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       # taz.de -- Proteste und Polizeigewalt in der Türkei: Trauerzug der Hunderttausend
       
       > Nach dem Tod von Berkin Elvan erfasst ein Aufschrei das ganze Land. Die
       > Wut auf Erdogan ist größer als je zuvor. In Istanbul gibt es erneut
       > Ausschreitungen.
       
   IMG Bild: „Erdogan, Mörder, Mörder“ – dieser Spruch verbindet die Menschen, die am Mittwoch in Istanbul und anderen türkischen Städten auf die Straße gehen.
       
       ISTANBUL taz/dpa | „Wir sind heute hierhergekommen, weil es eine Schande
       ist, was mit Berkin Elvan passiert ist“, sagt eine der drei jungen Frauen.
       Sie studieren an einer teuren Privatuni weit weg von dem Armenviertel, in
       dem Berkin Elvan in einem alevitischen Gebetshaus aufgebahrt liegt. „Es ist
       das erste Mal, dass ich zu einer Demonstration gehe“, sagt Silvan, eine
       andere junge Studentin. „Es musste jetzt einfach sein. 14-jährige Kinder zu
       töten, dass ist zu schlimm.“
       
       Eine schier unübersehbare Menschenmenge hat am Mittwoch offenbar dasselbe
       Gefühl wie die drei jungen Frauen. Schon seit dem frühen Morgen strebt ein
       nicht endender Zug von Menschen dem Okmeydani Armenviertel entgegen, am
       Mittag stehen sie dicht an dicht im gesamten Viertel, obwohl der
       eigentliche Trauermarsch erst am frühen Nachmittag beginnen sollte. Als der
       Zug sich um 14 Uhr in Bewegung setzt, müssen es an die Hunderttausend sein.
       
       Es ist wie ein Aufschrei, der das ganze Land erfasst hat, seit am Dienstag
       bekannt geworden war, dass der 15-jährige Berkin Elvan gestorben ist,
       nachdem er 269 Tage im Koma gelegen hatte – seit dem 16. Juni 2013. Damals
       – einen Tag nach der gewaltsamen Räumung es Gezi-Parks – machte die Polizei
       selbst Kilometer vom Taksim Platz entfernt Jagd auf Demonstranten. In
       Okmeydani traf sie auf Berkin, der gerade ein Brot für das Frühstück der
       Familie holen wollte. Ein Polizist schoss dem damals noch 14-Jährigen eine
       Tränengasgarante aus nächster Nähe ins Gesicht.
       
       Neun Monate später ist das Brot zum Symbol der Trauer geworden. An einer
       Polizeisperre haben Demonstranten ein großes Foto von Berkin zusammen mit
       einem Brot auf den Asphalt gelegt. Doch die Trauer ist vermischt mit einer
       Wut, die sich über Monate angestaut hat und sich nun Bahn bricht. „Erdogan,
       Mörder, Mörder“, ist der Ruf, der alle Teilnehmer des Marsches verbindet.
       „Das wird Erdogan teuer zu stehen kommen“, sagt ein Demonstrant, der ein
       großes Transparant trägt, auf dem der türkische Präsident im Stile eines
       Fahndungsplakates dargestellt ist.
       
       ## Hass gegen die AKP
       
       Berkin Elvan, der Junge, der nur Brot holen wollte, ist mindestens der
       Siebte, der von der Polizei im Zuge der Gezi-Proteste getötet wurde.
       Verantwortlich dafür ist Ministerpräsident Erdogan, der vor der Räumung von
       Gezi Park und Taksimplatz das harte Durchgreifen der Polizei gefordert
       hatte.
       
       Neun Monate später ist aber auch Wahlkampf und die regierende AKP ist
       erschrocken, welcher Hass ihr entgegenschlägt. Staatspräsident Abdullah Gül
       und der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc stammeln am
       Mittwoch einige Floskeln in die Mikros der Journalisten, doch für die
       Massen im Trauerzug spielt das längst keine Rolle mehr.
       
       Erdogan macht unterdessen Wahlkampf im Osten des Landes. Bei einer
       Kundgebung zeitgleich zur Trauerdemo in Istanbul sagt er, er verstehe
       nicht, warum die Leute nun alle Mörder, Mörder schreien. „Was soll ich
       getan haben, einen Mann umgebracht?“
       
       ## Kontakt zur Realität verloren
       
       Es ist, als hätte der Ministerpräsident den Kontakt zur Realität völlig
       verloren. In Istanbul, Ankara, Izmir und etlichen weiteren Städten des
       Landes gehen Hunderttausende auf die Straße. Allabendlich werden neue
       Tonbänder auf Youtube ins Internet gestellt, die ihn, seine Familie und
       seine Freunde als korrupte Bande darstellen.
       
       Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen Korruption hat Erdogan als
       „Putsch“ bezeichnet. Die zuständigen Ermittler hat er entlassen oder
       versetzt und sie beschuldigt, ihre Beweise fabriziert zu haben. Da die
       Ermittler teilweise mit denen identisch sind, die seit 2007 die Verfahren
       gegen nationalistisch-kemalitische Militärs und Bürokraten geführt haben,
       werden die Ergebnisse dieser Prozesse nun auch in Frage gestellt. Zum
       Entsetzen vieler Bürger wurden deshalb in den vergangenen Tagen etliche
       Militärs und Geheimdienstler auf freien Fuß gesetzt. Darunter sind
       vermutlich auch die Drahtzieher einer Mordwelle an Christen, die die Türkei
       2007 erschütterte.
       
       Am Ende des Trauerzuges kam es abermals zu gewalttätigen
       Auseinandersetzungen. Nachdem die Polizei Demonstrationszüge zum zentralen
       Taksim-Platz mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen gestoppt
       hatte, feuerten Demonstranten mit Zwillen. Sie warfen Steine und
       errichteten Barrikaden.
       
       dpa-Reporter berichteten am Mittwoch, die Polizei treibe Demonstranten über
       den Taksim-Platz und durch die umliegenden Straßen. Allein rund um den
       Platz hatte die Polizei mindestens fünf Wasserwerfer im Einsatz. Auch im
       Zentrum der Hauptstadt Ankara ging die Polizei mit Tränengas gegen mehrere
       tausend Demonstranten vor. Mehr als einhundert Menschen wurden
       festgenommen. Die Auseinandersetzungen dauerten am frühen Mittwochabend
       fort.
       
       Noch zwei Wochen sind es bis zu den landesweiten Kommunalwahlen. Es könnte
       sein, dass die Entscheidung an der Urne diesmal gegen Erdogan fällt.
       
       12 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
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