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       # taz.de -- „Vor dem Fest“ von Sasa Stanisic: Die Füchsin von Fürstenfelde
       
       > Der brillante Uckermark-Roman „Vor dem Fest“ von Sasa Stanisic wirft eine
       > Frage auf: Darf man einem Autor vorwerfen, dass er weiß, wie gut er ist?
       
   IMG Bild: Der Autor Sasa Stanisic im Uckermark-Ambiente. Er dankt: Fürstenberg, Fürstenfelde, Fürstenwalde, Fürstenwerder usw.
       
       Im Haus der Heimat ist ein Fenster eingeschlagen worden. In jenem von Frau
       Schwermuth sorgfältig gehüteten Haus, geschützt von einer nur durch einen
       Zahlencode zu öffnenden Tür, in dem die Historie von Fürstenfelde sich in
       Schichten von Papier, Büchern, Erinnerungen abgelagert hat.
       
       „Wenn bei uns“, so kommentiert das der Erzähler, „irgendwo ein Fenster
       eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was
       entkommen sein könnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist.“
       
       Was entkommen ist, das sind die Geschichten des Dorfes. Nun geistern sie
       herum. Und es ist gut, dass jemand sie aufgeschrieben hat.
       
       Ganz ohne eigenes Zutun ist der 1978 in Bosnien-Herzegowina geborene und
       seit 1992 in Deutschland lebende Sasa Stanisic in den Fokus einer zunehmend
       hohl drehenden Debatte um die deutsche Gegenwartsliteratur geraten. 2006
       hatte er mit seinem viel gelobten Roman „Wie der Soldat das Grammofon
       repariert“ debütiert, einem Buch über den Bürgerkrieg in Jugoslawien,
       erzählt aus der Perspektive eines Heranwachsenden. Und nun der zweite
       Roman, mit großen Erwartungen belegt und mit dem Alfred-Döblin-Preis
       ausgezeichnet, in dem Stanisic es wagt, sich vom autobiografischen Erzählen
       zu entfernen und ein Dorf in der Uckermark ins Zentrum zu rücken.
       
       ## Entvölkernde brandenburgische Weite
       
       Das brachte Stanisic von seinem Kollegen Maxim Biller den mehr oder weniger
       verklausulierten Vorwurf des Verrats ein. Eine absurde Position: „Vor dem
       Fest“ ist ein fabelhaftes Buch, und es ist so fabelhaft nicht zuletzt in
       der sprachlichen Art und Weise, in der es sich seines Stoffs annimmt.
       
       Fürstenfelde heißt der Schauplatz des Romans, ein Kaff in der sich langsam
       entvölkernden brandenburgischen Weite. Die Jungen gehen weg; die Alten
       sterben weg, gerade ist der Fährmann gegangen, ein starkes Bild. Doch bis
       es endgültig so weit ist, gibt es noch einiges zu tun. Ein Fest zu feiern,
       beispielsweise, so geschieht es seit Jahrhunderten, das Annenfest, „was wir
       feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat
       genau an diesem Tag begonnen. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das
       gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.“
       
       Man beginnt das zu lesen, die Feier des Erzählens, mit Freude, mit großem
       Genuss. Doch es dauert nicht lange, bis leiser Zweifel aufkommt: So
       abgeklärt, so clever und smart, so perfekt durchdacht kommt Stanisic Stil
       daher; stets hat er eine Pointe parat und ist in der Lage, seinen Sätzen
       noch einmal eine überraschende Wendung zu geben. Da ist sich einer seiner
       Sache sehr sicher, und das zeigt er auch.
       
       Und dann liest man weiter und denkt: Na und? Darf man einem Autor
       vorwerfen, dass er weiß, wie gut er ist, wenn er doch wirklich verdammt gut
       ist?
       
       ## „Sparkasse im Sonnenuntergang“
       
       Es gibt zwei Argumente für diese Form der Brillanz, die jeden Einwand vom
       Tisch wischen: Stanisic ist kein ironisch-distanzierter Spötter, sondern
       szenenweise ein begnadeter Komiker. Und er bedenkt jede seiner Figuren mit
       unbedingter Sympathie. Er nimmt sie ernst, aber er beschreibt sie mit
       Humor. Das findet man selten.
       
       Es ist tatsächlich ein Reigen, der hier aufgeführt wird, eine Abfolge
       kurzer Bühnenstücke, die in einen kohärenten inneren Zusammenhang gebracht
       werden. Es treten auf, unter anderem: Herr Schramm, ehemaliger
       Oberstleutnant der NVA, ehemaliger Förster, heute Rentner und Aushilfskraft
       in einer Maschinenfabrik, starker Raucher, im ewigen Kampf gegen den
       Zigarettenautomaten, und Protestwähler (er tendiert zur FDP). Dietmar
       Dietz, Briefträger, ehemaliger Stasispitzel und Hühnerzüchter. Frau Kranz,
       passionierte Malerin, die seit 70 Jahren die Chronik von Fürstenfelde
       anhand von Ölbildern malt, zu ihren letzten Werken gehören „Sparkasse im
       Sonnenuntergang“ und „Der Neonazi schläft“. Der Neonazi, das ist der Rico,
       der einzige Neonazi in Fürstenfelde.
       
       Es gibt eine Hand voll solcher plastisch gezeichneter Charaktere, die auf
       dem schmalen Grat des deutschen Realismus balancieren. In solchen
       Augenblicken erinnert „Vor dem Fest“ fast ein wenig an Ingo Schulzes„
       Simple Storys“. Überhaupt ist es beglückend zu sehen, wie Stanisic mit
       einer Technik, die eindeutig an Traditionen der amerikanischen Moderne
       anknüpft, in historisch und ästhetisch weit gefächerte Dimensionen
       vordringt.
       
       Was er hier, auf zeitlich recht beengtem Raum (der Roman spielt in den 24
       Stunden vor und während des Annenfestes), vornimmt, ist erstens eine
       historische Tiefenbohrung vom 16. Jahrhundert (es gibt wunderbare Passagen
       in einem zwischen Parodie und Imitation schwankenden Barockdeutsch) bis in
       die Gegenwart (wobei auch die Historie selbst wiederum nur Imagination ist;
       „Historische Genauigkeit interessiert uns nicht“, so heißt es einmal).
       
       ## Bestandsaufnahme ostdeutscher Befindlichkeit
       
       Zweitens ist es eine ganz konkrete Bestandsaufnahme ostdeutscher
       Befindlichkeit; eine Offenlegung von Mentalitäten in einem Zeitalter nach
       allen Ideologien (mit Ausnahme des Kapitalismus, der dann alles geschluckt
       hat). Drittens aber auch der gelungene Versuch, all das zurückzuholen in
       die Sphäre des Dichterischen.
       
       Das verbindet Sasa Stanisic mit einem Schriftsteller wie dem in
       Niedersachsen lebenden Henning Ahrens - auch bei ihm sind Mensch, Tier und
       Landschaft in einem universalpoetischen Anspruch miteinander verbunden und
       gleichgestellt. Bei Stanisic ist es eine Fähe, eine fußkranke Füchsin, die
       durch das Gelände streift, um den Hühnern die Eier zu stehlen. Ganz
       abgesehen von zwei rätselhaften Fremden, die im Dorf auftauchen und
       ausschließlich in gereimten Sätzen sprechen.
       
       All das sind sehr gute und zum Teil verwegene Einfälle. Die muss man
       zusammenbringen. Und das gelingt Stanisic dank einer ungewöhnlichen
       Erzählhaltung: Das „Wir“, das hier spricht, ist die kollektivierte Stimme
       einer Landschaft, einer Perspektive auf die Welt, auf ein Dorf. In seinem
       Nachwort dankt der Autor den Bewohnern von Fürstenberg, Fürstenfelde,
       Fürstenwalde, Fürstenwerder sowie Prenzlau sowie den jeweiligen
       Heimatmuseen, Heimatstuben und Heimatvereinen für ihre Unterstützung.
       
       Und wieder darf man sich nicht sicher sein, ob auch das nicht eine
       Erfindung ist. Es ist nicht wichtig. Das spricht für die Qualität dieses
       Romans, der die eingesperrten Geschichten in die Freiheit entlässt.
       
       10 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph Schröder
       
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