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       # taz.de -- Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“: Neues aus der Welt von gestern
       
       > Mehr als eine verschrobene Komödie: In einem imaginären
       > mitteleuropäischen Zwergstaat spinnt Wes Anderson seinen
       > filmübergreifenden Familienroman fort.
       
   IMG Bild: Concièrge und Lobby-Boy: M. Gustave (Ralph Fiennes) und Zero Moustafa (Tony Revolori).
       
       Den Stammbaum der Familie von Royal und Ethel Tenenbaum hat bisher noch
       niemand eingehend erforscht. Doch nun gibt es neue Hinweise. Sie könnte
       möglicherweise aus Zubrowka stammen, einem osteuropäischen Kleinstaat, den
       es nur in der Fantasie von Wes Anderson gibt, wie ja auch die Familie
       Tenenbaum.
       
       2001 brachte er seinen Film „The Royal Tenenbaums“ heraus, die Geschichte
       einer zerbrechenden Familie in einem verwunschenen New York. Nun ist
       Anderson mit seinem Großprojekt einer filmischen Recherche nach der
       verlorenen Zeit einen entscheidenden Schritt vorangekommen: „The Grand
       Budapest Hotel“, mit dem vor einigen Wochen die Berlinale eröffnete und für
       den es einen Silbernen Bären gab, schlägt eine kühne Brücke zwischen alten
       und älteren Welten. Und im Mittelpunkt steht ein Land, das es niemals in
       einen Völkerbund geschafft hat, weil es immer schon einer „Welt von
       gestern“ angehörte: Zubrowka.
       
       Wes Anderson nennt im Abspann ausdrücklich das berühmte Buch von Stefan
       Zweig als Inspiration. Doch der springende Punkt ist: Was ist von wo aus
       gesehen „gestern“? Der historische Bezugspunkt für die Geschichte von „The
       Grand Budapest Hotel“ lässt sich hinter den komischen Entstellungen des
       Films unschwer ausnehmen. Es ist die Epoche des Aufstiegs der totalitären
       Systeme, die Jahre des frühen 20. Jahrhunderts, in denen aus Nationalismus
       und Imperialismus eine gefährliche Mischung wurde, die in zwei Weltkriegen
       viele Millionen Leben kostete.
       
       Doch Wes Anderson ist kein Historiker, und wenn, dann betreibt er
       allenfalls Geschichte „von unten“. Die beiden wichtigsten Protagonisten in
       „The Grand Budapest Hotel“ gehören zum Personal: M. Gustave (Ralph Fiennes)
       ist ein Concièrge, Zero Moustafa (Tony Revolori) ist ein Lobby-Boy. Beide
       sind Beschäftigte in dem besagten Hotel, das im tiefen Zubrowka auf einem
       Zauberberg liegt und nur mit einer Zahnradbahn erreichbar ist.
       
       ## Aus der Zeit gefallen, in die Zeit gefallen
       
       Die Assoziation zu dem großen Roman von Thomas Mann beschränkt sich zwar
       auf den Titel, doch dieser verweist uns auf einen entscheidenden Aspekt:
       Wenn etwas aus der Zeit fällt, bedeutet dies zugleich, dass es umso tiefer
       in die Zeit fällt. Es geht möglicherweise darin verloren und muss erst
       wieder geborgen werden.
       
       Was Wes Anderson in seinen Zeitfalten findet, ist unschwer zu erkennen:
       Stil. Er hält Dinge hoch, die einem in Houston, Texas, geborenen Amerikaner
       nicht in die Wiege gelegt wurden. Er verkörpert auch persönlich eine
       Mischung aus Hipster und Dandy, und seine künstlichen Vergangenheiten sind
       komplexe Bastelarbeiten, in denen er Welten, die es nie gab, im Studio
       rekonstruiert.
       
       Für so ein Unternehmen gibt es im amerikanischen Kino eine Chiffre. Sie
       lautet Rosebud, entsprechend dem Rätsel eines unerreichbaren archimedischen
       Punkts der Subjektivität, um den herum Orson Welles in „Citizen Kane“ einen
       ganzen Palast namens Xanadu errichten lässt. Das „Grand Budapest Hotel“ ist
       auch ein Xanadu, allerdings eines, das auf Ordnung gebaut ist und nicht auf
       exzessive Anhäufung von Trivialitäten. Es ist eine Ordnung, die wir nur
       noch als Verlust kennen. Es ist eine imaginäre Ordnung, die natürlich
       niemand besser verwalten kann als ein Concièrge. Das ist ja die Position in
       einem Hotel, die für alles andere zuständig ist, für das, was Rezeption,
       Zimmerservice und Küche nicht ohnehin verlässlich bereitstellen.
       
       Im Falle des „Grand Budapest Hotel“ ist dieses „alles andere“, das den
       Concièrge dazu zwingt, die Ordnung durch atemberaubende Improvisation
       aufrechtzuerhalten, die Geschichte des Jahrhunderts der Extreme. Als
       solches wird das 20. Jahrhundert gern bezeichnet, und Wes Anderson hat eine
       Figur erfunden, die alles in sich begreift, was in diesen Extremen auf dem
       Spiel steht: Zero Moustafa, ein staatenloser Junge, der auf der untersten
       Stufe der beruflichen Hierarchie einsteigt und dessen Herkunft sich wohl am
       ehesten mit „Orientalismus“ benennen ließe. Zero kommt vielleicht aus dem
       Orient, in erster Linie aber kommt er aus unseren Vorstellungen davon, eine
       kleine Spitze gegen Emanzipationsmärchen wie „Slumdog Millionär“ inklusive.
       
       Mit der Figur Zero lässt Wes Anderson seine Obsession für Stil politisch
       werden. Denn er zeigt, dass es ein nacktes Leben auch in Uniform gibt,
       inmitten einer Gesellschaft, die auf Zeremoniell gebaut ist, im Herzen
       einer Lebensform, die sich – und da wären wir doch noch einmal auch bei
       Thomas Mann – als Weltgesellschaft im Exil begreifen lässt. Ein großes
       Hotel organisiert ein Exil auf Zeit, und wenn das Hotel wie das „Grand
       Budapest“ aus der Zeit fällt, wird das Exil auf Dauer gestellt.
       
       Es gibt auch einen Plot, denn Wes Anderson ist nicht zuletzt ein
       Konstruktivist auch der Komödienform. Und auf dem sehr lustigen Parcours,
       den der in allen Formen der selbstbewussten Servilität schillernde M.
       Gustave und sein Adlatus Zero zu absolvieren haben, bekommen zahlreiche
       schräge Figuren einen Auftritt: die millionenschwere Madame D. (Tilda
       Swinton), die mehrere Testamente hinterlässt und dabei auch M. Gustave
       bedenkt, der ihr wohl gelegentlich zu lustvollen Diensten stand; ihr Sohn
       Dmitri (Adrien Brody), der es allem äußeren Anschein nach mit radikalen
       Gesellschaftsveränderern hält und sich dafür auch einen üblen
       bolschewistischen Schergen namens Jopling (großartig: Willem Dafoe) hält,
       der M. Gustave und Zero einmal eine herrliche Verfolgungsjagd in Schnee und
       Eis liefert.
       
       Und dann gibt es noch ein Objekt, das die umkämpfte Anciennität in „The
       Grand Budapest“ perfekt repräsentiert: das Gemälde „Junge mit Apfel“ eines
       außerhalb von Zubrowka leider gänzlichen unbekannt gebliebenen alten
       Meisters namens van Hoytl. Das Bild wird, als M. Gustave und Zero es an
       sich bringen, durch ein anderes ersetzt, das stark an einen erotischen
       Kultmaler aus Krumau erinnert.
       
       ## Ein größerer Plan in Andersons Werk
       
       Die Welten von Wes Anderson sind durchsetzt von solchen Bildern, die den
       Anschein erwecken, als enthielten sie eine ganze Welt in einer abgründigen
       Repräsentation, und die dann doch häufig wieder eher auf Leerstellen
       verweisen. Doch wird mit „The Grand Budapest Hotel“, der zu großen Teilen
       in Görlitz gedreht wurde, also nicht zufällig in einer historischen
       Reliquie in einer mehrfach verwüsteten mitteleuropäischen Landschaft, so
       etwas wie ein größerer Plan im Werk von Anderson erkennbar. Der Plan ist
       nicht systematisch, dazu ist die Problemstellung zu groß. Aber es deutet
       sich eben doch etwas an, was die ästhetischen Vorlieben von Anderson aus
       dem Gefängnis oder dem immer wieder beschworenen Puppenhaus erlöst.
       
       Das Prinzip, dem seine Fantasie folgt, ist ein Familienroman, in den sich
       eine ganze Generation eintragen kann, de facto sind es zwei oder drei
       Generationen seit 1945, die von den „alten Regimes“ nicht nur durch große
       Kriege, sondern auch durch eine Popkultur getrennt sind, die alles zitabel
       und adaptabel macht. Anderson zitiert und adaptiert auch, aber er tut dies
       auf eine spezifische Weise. Er entwirft nämlich, genau besehen, ein Modell,
       wie sich das alles integrieren lässt.
       
       In einem Familienroman wird immer etwas Fehlendes durch eine Größenfantasie
       kompensiert. Die Filme von Wes Anderson kehren das um. Sie zeigen die
       Familien, die entstehen, wenn sich das Personal von Familienromanen aus
       scheiternden Größenfantasien rekrutiert. So entstehen Verbindungen zwischen
       einem schrägen Musterschüler wie Max Fischer in „Rushmore“, den
       angstneurotischen Tenenbaum-Kindern oder den beiden
       Gerade-nicht-mehr-Kindern, die in „Moonrise Kingdom“ für eine Weile zu
       amerikanischen Ureinwohnern werden.
       
       Sie alle verweisen auf eine „family of man“, deren Chronik Wes Anderson in
       einer zunehmend abenteuerlicher werdenden Form von Anspielungen und
       Stammbäumen erzählt. Dass er sich in „The Grand Budapest Hotel“ auch
       filmhistorisch einen Vater in Ernst Lubitsch erwählt, dem Meister der
       obskuren Komödienreiche à la Zubrowka, ist nur Teil eines größeren Plans,
       der helfen könnte, uns aus den Fallen der individuellen Herkunft zu
       erlösen, ohne uns in die Einsamkeit der beliebigen Identifikation zu
       stürzen.
       
       5 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bert Rebhandl
       
       ## TAGS
       
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