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       # taz.de -- Studieren in Afghanistan: Bildung im 3-Klassen-System
       
       > Jedes Jahr wollen zigtausende Menschen in Afghanistan studieren. Weil die
       > staatlichen Unis nicht ausreichen, gibt es einen Boom an privaten
       > Instituten.
       
   IMG Bild: Viele freie Plätze? Eine Seltenheit in Afghanistan (Archivbild Universität Herat)
       
       KABUL taz | Nun heißt es für Afghanistans angehende Studenten warten und
       hoffen. Bis Ende Februar haben Tausende an den landesweiten
       Aufnahmeprüfungen, den Concours, für die 26 staatlichen Hochschulen
       teilgenommen. Doch es gibt weitaus mehr Bewerber als Plätze. Wenn man die
       Zahlen der letzten vier Jahre nehme, sagt Fahim Ebrat, der zu dem Thema
       geforscht hat, dann hätten insgesamt rund 300.000 Schulabgänger zwischen 19
       und 26 Jahren keinen Platz an der Uni bekommen.
       
       „Was werden die jungen Menschen tun?“, fragt Ebrat besorgt. „Mit Drogen
       handeln? In Frachtcontainern oder auf Booten über das Meer nach Europa
       flüchten und ihr Leben riskieren? Das kostenfreie Lehrangebot
       pakistanischer Medresen wahrnehmen, um womöglich Selbstmordattentäter zu
       werden?“
       
       Afganistans Geburtenrate ist hoch, die Bevölkerung jung. Zwei von drei
       Afghanen sind jünger als 25 Jahre. Seit dem Ende der Taliban-Herrschaft
       steigt die Zahl der Schulabgänger und damit auch die Zahl jener, die in den
       akademischen Bereich drängen.
       
       Doch angesichts fehlender Plätze sind viele junge Menschen enttäuscht.
       Bewerber berichten, dass oft Schmiergelder gezahlt werden müssten, um einen
       Studienplatz zu bekommen. Nicht selten drückten einflussreiche Familien
       ihre eigenen Kinder gegen Konkurrenten durch, die beim Concours nach
       Punkten besser abgeschnitten hätten. Besonders im Fokus stehen die
       renommierten Medizin- oder Ingenieursfakultäten in Kabul. „Betrug und
       Korruption haben an den bestimmten Fakultäten Tradition“, meint ein Kabuler
       Dozent. Zu klagen hätte wenig Sinn. „Die Ministerialbürokratie ist selbst
       mit involviert“, sagt er. Gelegentlich berichten die Medien über
       Bestechungsfälle. Geändert hat sich bisher jedoch nichts.
       
       ## Privileg Auslandsstudium
       
       Die afghanische Hochschullandschaft gleicht einem Dreiklassensystem. Die
       besten Aussichten hat jene kleine Gruppe von Studenten, die ein lukratives
       Auslandsstipendien in Europa, den USA oder Australien ergattert.
       Auslandsaufenthalte fördert auch der Deutsche Akademische Austauschdienst
       (DAAD), der sonst im Rahmen des „Stabilitätspakts Afghanistan“ den
       akademischen Aufbau vor Ort fördert. Die Geförderten, die nach Deutschland
       reisen, machen an hiesigen Universitäten ihren Masterabschluss oder
       erwerben einen Doktortitel. Zurück in Afghanistan sollen sie als Dozenten
       und Lehrkräfte ihre neu ausgestatteten Fakultäten voranbringen und
       Afghanistan so an das internationale Niveau heranführen.
       
       Die zweite Gruppe der angehenden afghanischen Akademiker hat einen
       Studienplatz im Land. Wenngleich die Lehrpläne der Universitäten und deren
       Ausstattung oft rudimentär sind und viele Einrichtungen einen Geist atmen,
       der von Studenten als Disziplinierungsanstalt wahrgenommen wird – ein
       staatliches Studium eröffnet nach wie vor Türen.
       
       Der dritten Gruppe junger Menschen, die nach höherer Bildung streben,
       bleibt nach dem Ausscheiden in den Aufnahmeprüfungen nur der Gang an eine
       der rund 75 privaten Universitäten. In den letzten sechs Jahren hat es
       einen regelrechten Gründungsboom solcher Institute gegeben. Ein heftiger
       Konkurrenzkampf ist entbrannt. Die privaten Hochschulen buhlen mit weithin
       sichtbaren Werbetafeln an zentralen Plätzen in Kabul und auch im Internet
       um die Gunst der Studenten und das Geld ihrer Eltern.
       
       Die Szene der Hochschulgründer ist vielgestaltig. Nicht nur erfolgreiche
       afghanische Geschäftsleute haben Institute ins Leben gerufen, sondern auch
       politische Akteure, darunter Gouverneure, gewendete Warlords und ehemalige
       Taliban – alles ausdrücklich gebilligt vom afghanischen Staat. Dessen
       chronische Schwäche geht hier in ein Experiment mit der Privatwirtschaft
       ein. Ausgang offen.
       
       Eine der ersten privaten Neugründungen, die Kardan-Universität, löste einen
       Run auf Bachelor-Titel aus. An der Spitze der Universität steht ein Bruder
       des ehemaligen Parlamentspräsidenten Yunus Qanuni. Der streng konservative
       ehemalige Mudschaheddin-Führer Abdul Rasul Sayyaf sammelt seine Klientel
       derweil an der Dawat-Universität.
       
       ## Auch Taliban gründen Hochschulen
       
       Auch sogenannte moderate Taliban tummeln sich auf dem neuen Markt für
       höhere Bildung: So haben Mullah Wakil Muttawakil, der ehemalige
       Außenminister der Bewegung, und Mullah Abdul Salam Zaeef, Exbotschafter der
       Taliban in Pakistan, die beide in Kabul unter Auflagen wohnen, 2012 ein
       Institut für höhere Bildung namens Salam mitbegründet. Ihre Kontakte zur
       Taliban-Führung sollen sie dadurch nicht eingebüßt haben.
       
       An der Salam-Universität studieren auch Frauen, wobei die Pausenräume nach
       Geschlechtern getrennt sind. „Für wertkonservative Familien, die ihre
       Töchter beschützt studieren lassen wollen, erfüllt diese Uni ihren Zweck“,
       so der afghanische Politikwissenschaftler Niamatullah Ibrahimi. Zugleich
       sieht Ibrahimi die Politisierung der höheren Bildung in Afghanistan
       kritisch.
       
       Die Krux der Privatuniversitäten: Es gibt keine Aufnahmeprüfungen. „Es
       werden alle Studenten aufgenommen. Aber so steigt das Niveau nicht, sondern
       es bleibt gleichmäßig schwach“, kritisiert Ali Amiri, Dozent und
       Mitbegründer der Privat-Uni Ibn Sina in Kabul.
       
       Doch der Run auf die Universitäten ist ungebrochen. In den letzten zwei
       Jahren sei die Studentenzahl an der Ibn-Sina-Universität von 400 auf 1.400
       gestiegen, berichtet Amiri. Gut ein Drittel der Studenten seien Frauen, für
       die ermäßigte Studiengebühren gelten. Allein durch die Gebühren nehme die
       Universität pro Jahr rund eine Million US-Dollar ein, rechnet Amiri vor.
       Die Hochschule will unter anderem investieren, um vor den Toren Kabuls
       einen größeren Campus zu errichten.
       
       Welche Privatinstitute kurzfristigem Profitstreben folgen und welche
       nachhaltigeren Zielen, ist zurzeit schwer einzuschätzen. Der rasante
       Wettbewerb ist auf jeden Fall symptomatisch für den ungebändigten
       Kapitalismus, der die afghanische Wirtschaft prägt.
       
       Die große Zahl der Hochschulen hat auch ethnische Gründe. Einige
       Einrichtungen kümmern sich vor allem um den paschtunischsprachigen
       Nachwuchs, während Universitäten mit Hasara-Mehrheit keine Pashtu-Bücher in
       ihren Bibliothek führen.
       
       ## Die Vorzüge der Privaten
       
       Während vor allem Exilafghanen die Privatisierung im Bildungssektor
       skeptisch verfolgen, sehen betroffene Studenten auch Vorzüge. Fawzia aus
       Kabul hat ein Stipendium für Deutschland bekommen: „Ich konnte mich direkt
       für eine ausländische Uni über den akademischen Auslandsdienst bewerben.
       Hätte ich über das afghanische Bewerbungssystem gehen müssen, wäre das
       Risiko von Korruption und Bevorzugung groß.“
       
       Sie sieht auch keine Nachteile in der Betreuung. „An einigen Privatunis
       gibt es mehr qualifizierte Dozenten.“ An den staatlichen Universitäten
       blockierten ältere Dozenten nicht selten den Übergang ins neue Zeitalter,
       beobachtet auch Niamatullah Ibrahimi. „Ein Teil macht keinen Platz für die
       Jüngeren, obwohl sie offiziell längst pensioniert sind und die junge
       Generation besser qualifiziert ist.“
       
       Doch Shekeb, Dozent an der staatlichen Kabuler Universität, ist
       zuversichtlich. „2002 hat es an unserer Fakultät in Kabul nur rund 10
       Prozent Dozenten mit Magister-Abschluss gegeben. Jetzt sind es rund 80
       Prozent“, sagt er. Auch die Ausstattung mit Fachbüchern in englischer
       Sprache habe sich deutlich verbessert. Die Fakultät verfügt außerdem über
       ein gepflegtes Labor, neue Mikroskope und über dreißig Lehrkräfte.
       
       ## Studium nur für Vermögende
       
       Aus all der neuen akademischen Unübersichtlichkeit ragt eine
       Privatuniversität wie ein Leuchtturm heraus: die American University of
       Kabul, die vor zehn Jahren mit Unterstützung der ehemaligen
       US-Präsidentengattin Laura Bush gegründet wurde. Ausgerechnet Afghanistans
       Minister für höhere Bildung bekleidete das Amt des ersten Präsidenten. Die
       Gebühren für ein Graduierten-Studienjahr liegen bei rund 10.000 US-Dollar.
       
       Ein Studium können sich nur vermögende Afghanen leisten, weshalb die
       Universität als Eliteschmiede für Kinder von Regierungsmitgliedern und
       Ministerialbeamten gilt. Aber auch die anderen Privatinstitute bleiben der
       Mittel- und Oberschicht vorbehalten: 300 bis 500 US-Dollar pro Semester,
       dazu Ausgaben für Kost und Logis können sich viele Familien nicht leisten.
       
       Tradition und Sicherheit blockieren ebenfalls den Weg zum Studium, vor
       allem auf dem Land: In Regionen, wo die Taliban herrschen und höhere
       Bildung für Frauen verpönt ist, müssen sich Familien, die ihre Töchter auf
       die Hochschule schicken, immer wieder gegen Einschüchterung oder Drohungen
       zur Wehr setzen.
       
       In den Städten gibt es zwar Studentenwohnheime für Frauen, aber oft
       begleiten die Eltern ihre Töchter in die Stadt. Auch junge Männer können
       von den Eltern zurückgehalten werden. Die Felder müssen bestellt werden,
       und ein Mann im Haus garantiert Sicherheit.
       
       Es ist wie so häufig in Afghanistan. Vieles muss reformiert werden, und
       zugleich ist vieles schon in Bewegung.
       
       Von der Reform des Bildungssystems hängt letztendlich aber Afghanistans
       Zukunft ab. „Wir brauchen qualifizierte Studenten“, sagt Fahim Ebrat, „es
       muss zuverlässige Staatsdiener geben, die sich in Regierung und in den
       Sektoren der Entwicklungshilfe langfristig engagieren.“ Sonst werde sich
       die hohe Analphabetenrate fortpflanzen und zum Problem für das Land werden.
       Bildung könne außerdem helfen, die nationalen Sicherheitskräfte zu
       stabilisieren, meint er mit Blick vor allem auf das Offizierskorps.
       Tatsächlich ist unklar, wie loyal und effektiv die auf dem Papier über
       300.000 Mann zählenden afghanischen Streitkräfte nach dem Teilabzug der
       ausländischen Streitkräfte aus Afghanistan sein werden.
       
       6 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Gerner
       
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