URI: 
       # taz.de -- Psychatrisches Wohnprojekt in Gefahr: Berliner Irrsinn
       
       > In der Hauptstadt sollen 40 psychisch Schwerstkranke ihre Bleibe
       > verlieren. Der Klinikkonzern Vivantes und der Senat wollen die Immobilie
       > verscherbeln.
       
   IMG Bild: Das Haus in der Dominicusstraße soll an ein Buddhistisches Zentrum veräußert werden. Doch brennen dort schon jetzt Räucherstäbchen – bei Frau Jäger.
       
       BERLIN taz | Diese Geschichte ließe sich erzählen anhand von Schriftsätzen,
       Gesetzestexten und Zuständigkeiten. Darin ginge es um die Frage, wie wir
       mit psychisch kranken Menschen umgehen wollen. Sie handelte von Geldsummen
       und einem großen Vorhaben namens Psychiatriereform. Sie lässt sich aber
       auch ganz anders erzählen. Als Geschichte von Menschen wie dem belesenen
       Herrn Michel, dem abgehärteten Herrn Gniatczyk und Frau Jäger mit dem
       Hexenhut.
       
       Steffen Michel weiß schon, was kommt. Der kleine Mann mit der grauen
       Jogginghose streicht sich mit der Hand übers Haar. Leise sagt er: „Ich hab
       ’n bisschen Angst.“ Doch dann posiert er stolz für ein Foto: „Ich werd wohl
       noch Model, wa?“
       
       16 Jahre lang interessierten sich nur wenige für Michels Heimat, einen
       50er-Jahre-Bau an der Dominicusstraße in Berlin. Hier, schräg gegenüber vom
       Rathaus Schöneberg, leben seit 1998 bis zu 40 psychisch schwerstkranke
       Menschen. Die meisten leiden unter Schizophrenie oder Psychosen. Manche von
       ihnen haben ihr halbes Leben in psychiatrischen Einrichtungen verbracht.
       Hierher kommen die, die sonst nirgends hinpassen. Die nicht nur psychisch
       krank, sondern auch süchtig sind nach Alkohol oder Tabletten.
       
       Trotzdem erinnert hier nichts an die bekannten Bilder von Psychiatrien. An
       lange Klinikflure und Psychopharmaka-Empfänger mit leerem Blick. Ende der
       neunziger Jahre griff auch in Berlin der zentrale Gedanke der sogenannten
       Psychiatriereform: Psychisch kranke Menschen brauchen ein überschaubares
       Umfeld statt Anonymität. Einbindung statt Verwahrung.
       
       In der Dominicussstraße hat jeder Bewohner sein eigenes, selbst gestaltetes
       Zimmer. Die wenigen Quadratmeter Wand in Steffen Michels Raum sind
       vollgestellt mit Büchern, J. K. Rowling steht neben Alfred Döblin. Michel
       trägt Zimmer- und Haustürschlüssel um den Hals. Seit sechs Jahren ist er
       hier. Je vier oder sechs Menschen leben in einer Wohngemeinschaft, sie
       teilen sich eine Küche. Die Pinel gGmbH betreibt die Einrichtung und eine
       Tagesklinik im Erdgeschoss. Rund um die Uhr sind ihre Betreuer im Haus.
       Alle paar Minuten sagt Herr Michel leise, den Kopf leicht abgewandt: „Ich
       hab ’n bisschen Angst.“
       
       Die meisten Bewohner leiden unter Angsterkrankungen. Die Betreuer müssen
       sie oft beruhigen. Spaziergänge im Garten helfen, manche können leichte
       Arbeiten verrichten, etwa Kartoffelschälen. Das Ziel der Betreuer: so viel
       Selbstständigkeit wie möglich, so viel Betreuung wie nötig. Und jede Menge
       Ruhe.
       
       ## Vivantes ist ein landeseigener Konzern
       
       Die ist seit Jahresbeginn gestört. Damals erfuhr die Geschäftsführung des
       Heims: Sie sollen hier raus. So will es der Hauseigentümer. Ende der 90er
       Jahre hatte das Auguste-Viktoria-Klinikum (AVK) das Gebäude für eine
       symbolische D-Mark vom Land Berlin übernommen. Das AVK gehört mittlerweile
       zu Vivantes. Der Klinikkonzern ist ein hundertprozentiges Unternehmen des
       Landes Berlin. Für 2,5 Millionen Euro will das Unternehmen laut
       Medienberichten die Immobilie an ein Buddhistisches Zentrum verkaufen. Die
       Heimbetreiber klagen, ihren Bewohnern drohe die Obdachlosigkeit.
       
       Seither steht das unscheinbare, aber zentral gelegene Haus im Zentrum eines
       großen Konflikts. Es geht um die Frage: Wie wollen wir mit psychisch
       schwerstkranken Menschen umgehen?
       
       Mit Herrn Michel etwa, der jeden Artikel über den geplanten Verkauf gelesen
       hat. Oder mit Peter Gniatczyk, der keine Zähne mehr hat. Im Zimmer des
       schmalen Mannes steht eine Holzbank, kein Stuhl. Auf der Bank sitzt er am
       liebsten. Dann raucht er bei geöffnetem Fenster, auch im Winter, bis seine
       Finger ganz braun sind. „Ich bin abgehärtet“, sagt er und lächelt. Herr
       Gniatczyk war früher obdachlos. 1998 kam er als einer der Ersten aus der
       Großklinik hierher.
       
       ## „Ein ganzes Netz würde zusammenbrechen“
       
       Mittagspause. Zwei Männer setzen sich in einem sonnigen Besprechungsraum an
       einen Tisch. Der eine, Bernd Gander, 60 Jahre, trägt zum blau-weiß
       karierten Hemd den farblich perfekt passenden Pullover. Gander ist
       Geschäftsführer des Heims. Der andere heißt Georg Mast, ist 61 und trägt
       überm blauen Jeanshemd eine Adidas-Trainingsjacke. Er ist der Leiter des
       Wohnhauses. Gander ist für den Umgang mit der Welt da draußen zuständig,
       Mast für die hier drinnen.
       
       Vor ihnen liegt ein blauer Hefter, voll mit Schreiben an Bezirks- und
       Landespolitiker, Plenarprotokollen und Zeitungsartikeln. Gander sagt: „Wir
       werden das Haus besetzen, wenn es sein muss.“ Mast nickt langsam und
       ergänzt: „Wir sind vernetzt in der Nachbarschaft, in der Kirchengemeinde,
       bei den Ärzten.“ Ehemalige Heimbewohner hätten gar eigene Wohnungen in der
       Nachbarschaft beziehen können. „Müssten wir hier raus, würde ein ganzes
       Netz zusammenbrechen.“
       
       Die beiden fühlen sich hintergangen. Als im vergangenen Sommer das
       Bieterverfahren lief, versuchten sie mitzuhalten, boten 1,6 Millionen Euro
       für das renovierungsbedürftige Haus. Vivantes und die Berliner
       Senatsverwaltung für Gesundheit forderten mehr, wollten an den
       Höchstbietenden verkaufen. Auch nach Ende des Bieterverfahrens, erzählt
       Gander, sei Pinel aufgefordert worden, sein Angebot zu erhöhen. Gander
       glaubte, eine echte Chance zu haben. Als er hörte, ein Mitbewerber wolle
       2,5 Millionen Euro zahlen, zog er nach. Bankkredite sollten dafür
       herhalten. Vivantes erklärte, es glaube nicht, dass Pinel die Summe
       wirklich aufbringen könnte. Ein Mitbewerber erhielt für 2,5 Millionen Euro
       den Zuschlag.
       
       ## Kein Ausweichangbot, sagen die Betreiber
       
       In der blauen Mappe liegt auch eine offizielle Stellungnahme Ganders: „Es
       drängt sich nachträglich der Verdacht auf, dass die Nachverhandlungen mit
       der Pinel gGmbH nur dem Zweck dienen sollten, den Kaufpreis weit über den
       angesetzten Verkehrswert von 1,6 Millionen Euro zu treiben.“ Benutzten
       Klinikkonzern und Berliner Senat tatsächlich psychisch schwerstkranke
       Menschen als Druckmittel bei Verkaufsverhandlungen?
       
       Vivantes sieht das anders: „Die Geschäftsführung hat beschlossen“, erklärt
       eine Sprecherin, „dem wirtschaftlichsten Angebot den Zuschlag zu erteilen.“
       Der Aufsichtsrat habe zugestimmt. Doch müssten die Heimbewohner deshalb
       noch nicht ausziehen. „Der Verbleib der Pinel gGmbH wäre nach Verkauf für
       mindestens 24 weitere Monate gesichert. Losgelöst vom Bieterverfahren hat
       Vivantes der Pinel gGmbH signalisiert, nach räumlichen Alternativen auf
       Vivantes-Grundstücken, beispielsweise dem Auguste-Viktoria-Klinikum, zu
       suchen.“ Also doch alles halb so schlimm?
       
       Gander und Mast widersprechen. Vivantes habe ihnen kein einziges Gebäude in
       Schöneberg angeboten. „Aber wir wollen, sollen und müssen diese Menschen in
       Schöneberg betreuen.“ Pinel sei vertraglich dazu verpflichtet, die
       psychisch schwerstkranken Menschen des ehemaligen Westbezirks aufzunehmen.
       Sie könnten hier nicht weg. Und das Angebot, aufs Klinikgelände umzuziehen?
       „Es wäre ein Skandal“, sagt Mast, „die Leute wieder dorthin zu verfrachten,
       wo sie vor Jahrzehnten herkamen.“
       
       ## Enthospitalisierung war das Ziel
       
       Denn hinter der Geschichte vom Haus in der Dominicusstraße steht eine
       weitere. Und die betrifft nicht nur dieses Heim, diesen Bezirk, diese
       Stadt. Die Geschichte hinter der Geschichte ist die sogenannte
       Psychiatriereform. Und ihr großes Ziel, die Enthospitalisierung.
       
       Ab Mitte der siebziger Jahre entwickelte sich in der Bundesrepublik ein
       neuer Umgang mit psychisch kranken Menschen. Raus aus den Großkliniken,
       rein in überschaubare, persönlichere Einrichtungen. „Wir haben dazu
       beigetragen“, sagt Mast stolz, „dass Tausende Klinikbetten abgebaut werden
       konnten.“
       
       Nun suchen die Wohnheimbetreiber die Öffentlichkeit. Senat und Vivantes
       hatten sich mit der Behauptung verteidigt, sie seien rechtlich gezwungen,
       an den Höchstbietenden zu verkaufen. Inzwischen ist klar: Der zuständige
       Senator kann den Aufsichtsrat von Vivantes einfach anweisen, an Pinel zu
       verkaufen. Oder das Landesparlament fällt einen entsprechenden Beschluss.
       Seit November 2013 hat das Abgeordnetenhaus das Recht dazu. Wenn die
       Mehrheit im Unterausschuss Vermögensverwaltung es für richtig hält, kann
       sie auch andere als den Höchstbietenden zum Zuge kommen lassen. Schon in
       der Sitzung am 5. März steht der Verkauf der Immobilie in der
       Dominicusstraße auf der Tagesordnung. Doch wie die Mehrheit abstimmen wird,
       ist unklar.
       
       Die Bezirksverordnetenversammlung von Tempelhof-Schöneberg, also das
       zuständige Bezirksparlament, stimmte im Januar einstimmig für einen Antrag
       mit dem Titel „Wohnhaus für psychisch Kranke retten!“. Im Abgeordnetenhaus
       hält sich die SPD-CDU-Mehrheit bislang bedeckt. Die Zukunft von Herrn
       Michel, Herrn Gniatczyk und den 38 anderen bleibt ungewiss.
       
       ## Buddha und Räucherstäbchen
       
       Gander und Mast beenden ihre Mittagspause. Es geht vorbei an einer WG. Eine
       kleine Frau öffnet ihre Zimmertür. Anette Jäger trägt dunkle Gewänder. Auf
       dem Boden liegen Räucherstäbchen, in den Regalen stehen Buddhastatuen und
       Holzelefanten. Früher setzte sie ihre Wohnung unter Wasser. „Die Leute
       sagten“, erklärt sie mit stockender Stimme, „ich kann nicht allein leben.“
       Frau Jäger leidet an einer paranoiden Psychose. Außerdem hat sie
       Brustkrebs, akzeptiert aber nur Schmerzmittel, keine Therapie. Ihr bleibt
       nicht mehr viel Zeit.
       
       Als sie die Kamera sieht, setzt sie sich einen spitzen schwarzen Hexenhut
       auf. Sie posiert fürs Foto und freut sich.
       
       Früher nannte man Leute wie sie im Klinikjargon „Systemsprenger“. Menschen,
       die nirgendwohin passen. Hier nennt man sie einfach Frau Jäger.
       
       4 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Matthias Lohre
       
       ## TAGS
       
   DIR Vivantes
   DIR Obdachlosigkeit
   DIR Psychologie
   DIR Psychiatrie
   DIR Psychiatrie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Obdachlosigkeit nimmt zu: Es wird kalt in der Stadt
       
       Am 1. November beginnt wieder die Berliner Kältehilfe. Weil die Zahl der
       Obdachlosen steigt, schlagen die Organisatoren Alarm.
       
   DIR Studie über psychische Erkrankungen: Hartz-IV-Empfänger häufiger betroffen
       
       Ein Drittel der Bezieher von Hartz IV haben psychische Probleme. Die
       Arbeitsagentur will ihre Mitarbeiter deshalb besser ausbilden.
       
   DIR Diskriminierung: Psychisch krank – keine Bleibe
       
       Das „Ge“ von Gewosie steht für gemeinnützig. Doch einer Frau mit
       psychischer Erkrankung hat die Genossenschaft eine Wohnung verwehrt.
       
   DIR Neue Tagessätze für die Psychiatrie: Tagessätze je nach Diagnose
       
       Verbände und Gewerkschaften protestieren gegen ein geplantes neues
       Entgeltsystem in der Psychiatrie. Die Krankenkassen sehen nur Vorteile.
       
   DIR Schaden und Nutzen der Psychiatrie: „Ich nehme gern Psychopharmaka“
       
       Der eine war 21 und hatte Angst vor Menschengruppen – bis er endlich
       Medikamente bekam. Der andere war nach dem Abi aufgedreht – und wurde
       einfach weggesperrt.