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       # taz.de -- Straße oder Atelier: „Wir sind so sichtbar, dass wir unsichtbar sind“
       
       > Das Street-Art-Kollektiv "We are visual" baut Betten für Obdachlose,
       > macht Apple-Stores zu Windows-Läden und "Caspar David Friedrich" für alle
       > Hamburger erschwinglich.
       
   IMG Bild: Das Kollektiv ist sichtbar: Jung und Einsiedel.
       
       taz: Herr Einsiedel, Herr Jung, wie würden Sie Ihre Arbeit beschreiben? 
       
       Marc Einsiedel: Wir schwimmen in der Bildhauerei, machen konzeptionelle
       Installationskunst, haben aber auch einen gewissen Teil politischer Kunst.
       
       Felix Jung: Ich würde das noch korrigieren: Wir machen gerne politische
       Kunst, sind aber nicht in jeder Arbeit politisch orientiert. Wir machen
       nebenbei Brotjobs, künstlerische Assistenz, Ausstellungsaufbau. Ich arbeite
       mein ganzes Leben, ich war kein einziges Mal auf Unterstützung angewiesen.
       
       Es ist interessant, dass Sie das extra erwähnen. 
       
       Jung: Ich wollte damit sagen, dass wir nicht herumschweifende Schöngeister
       sind. Installationen verkaufen sich ganz schwer. Spritgeld ist eine tolle
       Sache, Kost und Logis auch, aber dass wir von unserer Arbeit leben können,
       dahin ist es noch weit.
       
       Ist es ein Ziel? 
       
       Einsiedel: Natürlich.
       
       Warum natürlich? Man könnte fürchten, dass man dadurch marktabhängiger ist. 
       
       Einsiedel: Weil ich hauptberuflich Künstler sein will. Wir können natürlich
       Produkte schaffen, die sich gut verkaufen lassen, Felix war sehr
       erfolgreich mit der Kunst, die er vorher gemacht hat, ist damit aber
       künstlerisch nicht weitergekommen. Unser Wunsch ist, dass unsere Kunst so
       anerkannt wird, wie sie ist.
       
       Und welche Kunst war verkäuflich? 
       
       Jung: Ich habe Schablonen geschnitten. In Frankreich ist das ein
       etablierter Markt. Aber das wurde langweilig – und ich habe gesehen, dass
       sich meine Helden von früher nicht weiterentwickelt haben. Man arbeitet
       sich hoch, lernt sie kennen und denkt: Das ist langweilig. Es gab keine
       Entwicklungsmöglichkeiten mehr für mich.
       
       Um dieser Langeweile zu entgehen, ziehen Sie sich Arbeitswesten an und
       mauern Werbeaufsteller zu. 
       
       Jung: Sie werden uns nicht sagen können, wie viele Servicekräfte Sie auf
       dem Weg hierher gesehen haben.
       
       Das heißt, man nimmt Sie dann auch nicht wahr. 
       
       Jung: Nein, wir sind nicht zu erkennen. Der Bürger erkennt den Arbeiter
       heute nicht mehr und wir sind ja als Servicekräfte unterwegs.
       
       Einsiedel: Wir sind so sichtbar, dass wir unsichtbar sind. Das haben wir
       uns aber hart erarbeiten müssen. Durch unsere Arbeit beim Messebau und beim
       Film haben wir von den Produktionen eingeprügelt bekommen, was man alles
       nicht darf. Da kann man sich einiges abgucken.
       
       Jung: Aber als wir in Kapstadt waren, war unsere Aufmachung plötzlich
       politisch: Es gibt da keine weißen Servicekräfte. Und trotzdem waren wir
       unsichtbar, weil sich niemand getraut hat, uns anzusprechen.
       
       Einsiedel: Wenn man sich viel dort bewegt, wo man sich eigentlich nicht
       bewegen dürfte, entwickelt man mit der Zeit ein Bauchgefühl. Man weiß, wann
       man sich zu lange an einem Ort aufhält oder man dreht schon auf dem Weg
       dorthin um. Das ist eine der wenigen Dinge, die wir nicht diskutieren.
       
       Viele Ihrer Arbeiten sind sehr flüchtig. 
       
       Einsiedel: Deswegen gibt es die Filme und die Fotodokumentation. Es sind
       Arbeiten, die wir sechs Tage vorbereitet haben und dann bleiben sie nur
       eine, zwei Stunden vor Ort oder wir werden direkt blockiert. Zum Beispiel
       beim „Baum“: Da hat der Entwurf eine Woche gedauert, wir haben zuvor ein
       Jahr lang Objekte aus dem öffentlichen Raum gesammelt, die mit
       Verkehrssicherung zu tun haben. Daraus ist eine Installation entstanden.
       Die ist am nächsten Tag abtransportiert worden.
       
       Ist ein Anspruch Ihrer Arbeit, witzig zu sein? 
       
       Jung: Nein. Wir haben Spaß daran, man kann unsere Arbeit als Performance
       sehen, es kommt durchaus vor, dass uns Freunde dabei zugucken. Aber es ist
       für uns eine ernst zu nehmende Arbeit – und die Freunde sind angewiesen,
       nicht danebenzustehen und uns zuzutexten.
       
       Wie ist die Reaktion von außen auf Ihre Arbeiten? 
       
       Einsiedel: Manche Sachen, in denen viel Arbeit steckt und auf die wir sehr
       stolz sind, kommen überhaupt nicht an und simple, stupide kleine Dinge
       werden total abgefeiert.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Einsiedel: Mit „Windows“ haben wir zwei Marken angegriffen. Am
       Jungfernstieg sollte es einen neuen Apple Store geben, der vor der
       Eröffnung als schwarzer Kasten dekoriert war, das ist die Corporate
       Identity von Apple. Wir wollten da ein Windows-Logo aufhängen, sind aber
       erst einmal gescheitert.
       
       Jung: Es ist schwierig, mit einer Sechs-Meter-Leiter unauffällig am
       Jungfernstieg zu sein. Beim zweiten Mal hat es geklappt und vier Tage lang
       war ein Windows-Logo am Apple-Store. Das hat zu einem Krieg zwischen Apple-
       und Windows-Usern geführt, ging durchs Internet, bis zu CNN online. Für uns
       war es nur ein witziger Nachmittag, produziert, weil wir bei einem
       Hamburger Kino-Kabarett mitmachen wollten.
       
       Und die großen Arbeiten, die nicht wahrgenommen werden? 
       
       Einsiedel: Mit „Caspar David Friedrich“ haben wir eine sozialkritische
       Skulptur gebaut, die wir auf der Innenalster platziert haben, was
       wahnsinnig schwierig war. Sie hat sechs Stunden gehalten. Die Vorgeschichte
       war, dass der Künstler Boran Burchardt die Alsterfontäne entführt hatte,
       die in Harburg den Stadtteil aufwerten sollte. Das war perfekt für uns,
       weil wir dachten: Jetzt ist Platz dafür, dass wir das Eismeer von Caspar
       David Friedrich nachbauen, ein Bild, mit dem die Stadt so wirbt. Aber es
       ist unglaublich teuer, sich das im Museum anzugucken. So haben wir es
       öffentlich und doch nicht öffentlich, zugänglich und doch nicht zugänglich
       platziert.
       
       Viel Resonanz gab es auf Ihre Arbeit „Zwei Betten“, wo Sie über einem
       zugebauten Abluftschacht zwei Betten für Obdachlose installiert haben. 
       
       Jung: Wir hatten nicht gedacht, dass es so viele Menschen beschäftigte,
       dass dort ein warmer Punkt für die Obdachlosen gewesen war, den man
       zugebaut hat. Es gab sehr viele positive Reaktionen.
       
       Einsiedel: Am Abend nach der Aktion war ich Bier trinken und traf einen
       Freund, der sagte: „Hast Du das gesehen?“ – und nicht wusste, dass wir es
       gewesen waren. Er hat dann aber auch gesehen, wie um 18 Uhr die Betten
       wieder von der Polizei entfernt wurden.
       
       Wie ist Ihr Kontakt zu anderen Künstlern? 
       
       Jung: Uns interessieren Freunde und talentierte junge Künstler, sei es
       etabliert oder nicht, die wir mit unserer überschüssigen Energie fördern
       können. Wir sind in der Lage, so etwas wie eine temporäre Galerie zu
       machen, und dann haben wir es einfach getan. Von unserer Seite kam
       Aufbauhilfe, Lichtsetzung und wir haben die Flyer bezahlt. Wir geben aber
       auch harte Kritik und wenn absehbar ist, dass etwas nicht funktionieren
       wird, dann brechen wir es auch ab.
       
       Einsiedel: Wir haben 2013 die Kapriole eröffnet, sie aber bewusst nur zwei
       Monate mit vier Ausstellungen geführt, dazu gab es Konzerte – alles
       ungefördert. Es war total schön, wir hatten sehr viel gutes Feedback, 2.000
       Gäste und wir werden es dieses Jahr noch einmal machen. Die Kapriole hat
       sich aber finanziell nicht selbst tragen können, deswegen werden wir
       diesmal Fördergelder beantragen.
       
       Setzen Sie sich Ziele? 
       
       Einsiedel: Wir haben uns eine Frist gesetzt, als wir uns 2010 zusammengetan
       haben: Wenn wir innerhalb von zwei Jahren nicht zu einem bestimmten Erfolg
       kommen, nicht finanziell, sondern was Feedback und Qualität anbelangt, dann
       orientieren wir uns neu.
       
       Jung: Das Ziel war, dass wir ernst genommen und nicht nur belächelt oder
       schlecht behandelt werden.
       
       Von wem schlecht behandelt? 
       
       Jung: Das passiert einem zu Anfang, wenn man jünger ist.
       
       Einsiedel: Wir selbst sind früher oft enttäuscht worden, wenn es hieß:
       „Klar, alles ist da, komm vorbei.“ Dann war aber nichts da. Wenn wir heute
       wegfahren, nehmen wir alles mit, wir haben unser eigenes Werkzeug.
       Hauptsache, da steht eine Wand – die streichen wir zur Not auch.
       Hauptsache, wir müssen mit keinem diskutieren.
       
       3 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Gräff
       
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