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       # taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 13: Autorin am Rande des Nervenzusammenbruchs
       
       > Mein Freund sagt, ich brauche mehr erzählerische Beweglichkeit. Aber ich
       > habe nur die Papiere. Wie den Abschiedsbrief meines Großvaters.
       
   IMG Bild: ... und jetzt bloß nicht an Guido Knopp denken.
       
       Kurz bevor ich vor drei Monaten mit diesem Roman anfing, traf ich meinen
       ehemaligen Literaturprofessor. Ich habe sehr lange studiert, über zehn
       Jahre, Magister eben, und kenne den Professor entsprechend lange. "Herr
       Professor", hab ich gejubelt, "Ich werde Fortsetzungsromanautorin!" -
       "Lea!", hat der Professor gesagt. Mit dieser Mischung aus Sorge und Vorwurf
       in der Stimme, als wäre ich beim Spielen vom Klettergerüst gefallen und
       hätte mir die Knie aufgeschlagen. "Und da freuen Sie sich?!", hat er
       gesagt, "Ich kenne Autoren, die würden in Tränen ausbrechen vor lauter
       Stress."
       
       Lieber Herr Professor, ich kann Sie beruhigen. Jetzt ist es so weit. Ich
       bin mit den Nerven am Ende. Letzte Nacht habe ich einen lieben Kollegen von
       mir zur Sau gemacht. Mitten in der Nacht. Mitten in Pankow. Wir kamen
       gerade von einer gemeinsamen Lesung. Eigentlich wollte er mir nur von dem
       Buch erzählen, das er gerade liest. Dieses Gewalt-Buch von Pinker, diesem
       amerikanischen Evolutionspsychologen, der sagt, dass die Geschichte der
       Menschheit die einer Befriedung sei. "Trotz 20. Jahrhundert?", hab ich
       gerufen, "Trotz Erstem und Zweiten Weltkrieg? Trotz der industriellen
       Vernichtung von sechs Millionen Menschen?"
       
       Ich bin eine schreckliche Diskussionspartnerin, wenn es um Ismen geht.
       Worte sind die einzigen Waffen, die ich habe. Ich bin ein halbes Hemd
       körperlich, ein Kleinkind kann mich umschubsen. "Du brauchst nicht so laut
       zu werden", hat mein Freund mir letztes Weihnachten ins Ohr geflüstert.
       Meine Familie war am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags tatsächlich auf
       die grandiose Idee gekommen, über Migrationspolitik zu diskutieren.
       Eigentlich wollten wir gerade nach Hause gehen. Und dann fing irgendjemand
       mit dem Oranienplatz an. Vielleicht war ich es sogar selber. Zuzutrauen
       wäre es mir. "Du brauchst nicht so laut zu werden", hat mein Freund
       geflüstert, "du bist argumentativ überlegen." - "Schon", hab ich erwidert,
       "aber sie merken's nicht. Das ist das Problem." Bis ein Uhr nachts haben
       wir uns mit Worten geprügelt, dann haben sich alle umarmt und sind
       erschöpft in ihre Betten gefallen. "Das Erstaunliche", hat mein Freund
       gesagt, als wir endlich zu Hause waren, "das Erstaunliche ist, dass in
       deiner Familie nicht nur alle die ganze Zeit reden. Ihr hört euch auch noch
       gegenseitig zu. In anderen Familien schalten einfach alle auf Durchzug,
       sobald sie am Kaffeetisch sitzen." Recht hat er. Anstrengend sind wir. Aber
       wenigstens ist es nie langweilig.
       
       Mein Freund sagt, ich muss wieder mehr von den Briefen weg. Die würden mich
       einschränken, mir die erzählerische Beweglichkeit nehmen. "Du hast doch
       vorher schon Mütterchen-Geschichten erzählt", sagt er, "bevor du die Briefe
       von deinem Großvater hattest. Gib dem Mann nicht so viel Macht über deinen
       Text."
       
       Recht hat er. Schon wieder. Der Punkt ist, was weiß ich denn schon über die
       Zeit? Was kann irgendjemand heutzutage über diese Zeit wissen, siebzig
       Jahre danach, außer denen, die sie selbst erlebt haben? In meinem Kopf ist
       der deutsche Faschismus ein Film in Schwarz-Weiß. Ein bisschen Charlie
       Chaplin, ein bisschen Steven Spielberg, dazu sagt die Stimme von Guido
       Knopp: "Ende 1944 fuhr Mütterchen ein letztes Mal nach Goldberg." Grausam
       ist das. Das will doch keiner. Also ich will das nicht. (Jetzt haben Sie,
       liebe Leserin, lieber Leser, auch noch die Stimme von Guido Knopp im Ohr.
       Na prima. Löschen Sie das! Hören Sie Michael Jackson! Oder Mozart, von mir
       aus.)
       
       Ich habe nur die Papiere.
       
       Zum Beispiel jenen Abschiedsbrief vom 13. Oktober, den mein Großvater an
       seine Eltern geschrieben hat, nachdem er erfahren hatte, er würde ins
       Arbeitslager kommen. Viel Organisatorisches steht drin. Wo das Radio
       hinkommt. Wer die Koffer holt. Es ist fast ein Testament. Mit dickem Ende:
       
       "Bitte, nehmt Ellis, wann immer sie es braucht, als wirkliche
       Schwiegertochter auf. Wir haben uns seit Juli schon sozusagen verlobt und
       sind fest entschlossen, einander zu gehören und treu zu bleiben. Ich habe
       euch das nicht erzählt, weil ich euch nicht noch diese Sorge machen wollte.
       Aber in dieser etwas feierlicheren Stunde soll doch geklärt werden, wir
       wollen heiraten, ganz gleich, was aus uns beiden werden sollte. Ellis'
       Unbedingtheit, Seelengröße und Kraft werdet ihr vielleicht nicht so gesehen
       haben wie ich, aber sie ist mir doch auch jetzt ein großer Halt. Durch sie
       bin ich erwachsen geworden. Versucht, sie allmählich etwas zu lieben -
       bitte!"
       
       Lea Streisand, Berliner Autorin und Schriftstellerin, liest seit 2003 auf
       Lesebühnen und Poetry-Slams in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihr
       neuestes Buch heißt "Berlin ist eine Dorfkneipe". Sie schreibt für die taz.
       Jetzt auch den Fortsetzungsroman "Der Lappen muss hoch!"
       
       28 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea Streisand
       
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