# taz.de -- Politische Krise in der Türkei: „Die Mutter aller Nachrichtenbomben“
> Der Mitschnitts eines Telefonats zwischen Erdogan und seinem Sohn ist ein
> Geschenk für die Opposition. Es befeuert den Wahlkampf.
IMG Bild: Demonstration in Ankara: „Die Regierung muss weg.“
ISTAMBUL taz | „Hirsiz, hirsiz, hirsiz!“ – „Dieb, Dieb, Dieb!“ schallt es
durch die Straßen am zentralen Istanbuler Taksimplatz. Die oppositionelle
Republikanische Volkspartei (CHP) nutzte am Mittwoch die Steilvorlage des
Telefonmitschnitts von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit seinem
Sohn Bilal, um mit einer Kundgebung gegen die Korruption der Regierung
ihren eigenen Wahlkampf zu befeuern.
Hunderte Teilnehmer hielten Plakate in die Höhe, auf denen Zitate aus dem
angeblichen Telefonat zu lesen waren. Darin soll Erdogan seinen Sohn
angewiesen haben, etliche Millionen Dollar aus dem Haus zu schaffen, damit
diese im Zuge einer drohenden Korruptionsermittlung nicht gefunden werden.
Der illegale Telefonmitschnitt ist ein Geschenk für die Opposition.
Genüsslich zitiert der neue Star der CHP, Mustafa Sarigül, der bei den
Kommunalwahlen am 30. März Bürgermeister von Istanbul werden will, aus dem
Protokoll und beschwert sich, dass die großen Fernsehstalten am Vortag eine
Übertragung der Rede des CHP-Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu just in dem
Moment abbrachen, als dieser den Mitschnitt vorspielte. „Die Medien werden
unterdrückt“, rief er den anwesenden Kamerateams zu. „Das werden wir
beenden.“
Auch wenn am Dienstagabend bei Kundgebungen in Istanbul, Ankara und Izmir
wieder Tausende Demonstranten von der Polizei angegriffen wurden, ist die
Stimmung im Lager der Opposition geradezu ausgelassen. In den Medien
diskutierten Kolumnisten und Experten, ob das Telefongespräch authentisch
sein kann oder Erdogan Recht hat, wenn er behauptet, das Ganze sei eine
„schamlose Fälschung“. Dabei kristallisierte sich schnell das entscheidende
Problem heraus: Eine unabhängige Justiz, die dieser Frage nachgehen müsste,
gibt es nicht.
## Echt oer Fälschung?
Ausgerechnet am Mittwoch setzte Staatspräsident Abdullah Gül seine
Unterschrift unter ein umstrittenes Gesetz, mit dem die Regierung
letztendlich die Kontrolle über die Besetzung aller Richter – und
Staatsanwaltsposten – übernimmt. Damit ist das Gesetz in Kraft und kein
Staatsanwalt kann es mehr wagen, gegen Erdogan ein Verfahren wegen
Korruptionsverdachtes einzuleiten. Er würde noch am selben Tag seinen Job
verlieren.
„Doch am Ende“, schreibt der Kolumnist Mehmet Y. Yilmaz in der Tageszeitung
Hürriet, „wird das auch zum Problem für Erdogan“. Er fügte hinzu: „Wem soll
der Ministerpräsident noch trauen, wenn eine unabhängige Überprüfung
verhindert wird?“
Für Mustafa Akyol, ein liberaler Muslim, der die Schlammschlacht zwischen
der AKP und der Gülen-Gemeinde mit Entsetzen beobachtet, ist der
Telefonmitschnitt sogar „die Mutter aller Nachrichtenbomben“: „Entweder der
Mitschnitt ist authentisch, dann ist es der größte politische Skandal in
der Geschichte der türkischen Republik. Oder er ist tatsächlich fabriziert,
dann ist es die größte politische Konspiration, die die Republik bis jetzt
erlebt hat.“ Beides sei ein Desaster, meint Akyol.
Das sieht die säkulare Opposition naturgemäß ganz anders. „Bei den Wahlen
Ende März“, rief Sarigül seinen Anhängern zu, „holen wir uns den jetzt
gesperrten Taksimplatz wieder zurück.“
26 Feb 2014
## AUTOREN
DIR Jürgen Gottschlich
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