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       # taz.de -- Linkspartei vor Europawahl-Parteitag: Offener Hemdkragen gegen Leninbart
       
       > Gesinnungslinker Friedensaktivist oder pragmatischer Gewerkschafter? Im
       > Rennen um Listenplatz zwei zeigt sich der Richtungsstreit in der
       > Linkspartei.
       
   IMG Bild: Nur einer kann Zweiter sein: Tobias Pflüger und Thomas Händel Seite an Seite
       
       BERLIN taz | Als Thomas Händel 2009 zum ersten Mal in Brüssel im
       EU-Parlament war, stand gerade die Haushaltsdebatte an. Er ging zur
       Parlamentsverwaltung und ließ sich den Etatentwurf ausdrucken. Der
       Mitarbeiter runzelte die Stirn und übergab ihm einen meterhohen
       Papierstapel. Händel sagte in bayrischem Idiom: Ich brauche nicht alle
       Sprachen, nur die deutsche Fassung. Es war die deutsche Fassung.
       
       Der heute 60-jährige Händel sitzt beim Italiener in Berlin, trägt recht
       feinen Zwirn und schaut auf ein Rotweinglas. Diese Episode ist eine
       Metapher für seine Erfahrung als Abgeordneter der Linkspartei im
       EU-Parlament: dort, wo vieles komplex, undurchsichtig, interessant ist.
       
       Händel, Siebentagebart, Glatze, offener Hemdkragen, sagt, dass er „gefühlt
       zwei Jahre“ brauchte, um als Abgeordneter in „den komplizierten EU-Betrieb
       hineinzukommen“. Er ist ein Mann der Gewerkschaft. Er war 22 Jahre lang
       Geschäftsführer der IG Metall in Fürth. Und 33 Jahre in der SPD. So wie
       sein Vater, der ebenfalls Sozialdemokrat und IG-Metall-Sekretär war. Der
       Punkt für den Bruch mit der SPD war für ihn die Agenda 2010, wie für viele.
       
       Im EU-Parlament hat er sich wie ein Gewerkschafter verhalten: flammende
       Reden gegen Neoliberalismus und Konzerne halten – und später schauen, was
       man pragmatisch rausholen kann. Er hat sich erfolgreich gegen die
       Verlängerung der Wochenarbeitszeit für Lkw-Fahrer engagiert und gegen
       Wasserprivatisierung und den Abbau des Streikrechtes antichambriert. Sein
       politischer Radius ist überschaubar: Arbeitnehmerrechte und Soziales. Er
       ist ein Traditionslinker, strikt gegen Deregulierung, eisern an der Seite
       der Gewerkschaften. Aber er will mitspielen in Brüssel. Und die Spielregeln
       sind formbar.
       
       Das Europaparlament, so seine Erfahrung, tickt anderes als die meisten
       Parlamente. Die Fraktionen sind multinational und bunter. Vor allem sind
       sie nicht Anhängsel einer Regierung. „Man kann auch als Minifraktion
       manchmal was durchsetzen“, sagt er. Das sei eine „Chance für linke
       Politik“.
       
       ## Nicht das Star-Wars-Imperium
       
       Ist die EU undemokratisch? „Das ist zu kategorisch, aber es gibt
       gravierende Demokratie-Defizite“ sagt er. Und: „Die EU ist nicht das
       Imperium aus der ’Star-Wars‘-Trilogie“. Eher ein komplexer Kosmos,
       schwerfällig, aber reformfähig.
       
       Tobias Pflüger trägt einen blauen Pulli, eine schwarze Brille und ein
       Lenin-Kinnbärtchen. Er rührt im Café Einstein in Berlin im Kaffee und denkt
       nach, was er im Europaparlament von 2004 bis 2009 verändert hat. Fast hat
       er mal einen Bericht zur Zusammenarbeit Nato/EU verhindert. Und er hat
       einen Nato-Kritiker bei einer Expertenanhörung durchgesetzt. Gesetze
       verändert? Das nicht. Hat die Erfahrung des Europaparlaments ihn selbst
       verändert? Nein, „menschlich nicht, politisch auch nicht“, sagt er. 2009
       versuchte er wieder ins EU-Parlament zu kommen, vergeblich.
       
       Pflüger ist 49, er ist seit 30 Jahren Friedensaktivist. Damals, in den
       80ern, stand die Mauer noch, es gab Pershings und den Kalten Krieg. „Im
       Kern“, sagt er, „sind meine Positionen die gleichen geblieben.“ Er stammt
       aus einem schwäbischen Pfarrhaus. Sein Vater ist Pastor, politisch
       konservativ. Als der Sohn für die PDS kandidierte, sagt der Vater: „Mach
       das. Die sind gegen Krieg.“ Es ist eine Art familiäre Delegation, eine
       Verbindungslinie über die Generationen.
       
       ## Der Bewegungslinke
       
       Pflüger ist Gründungsmitglied der Antikapitalistischen Linken (AKL), des
       Zusammenschlusses der besonders Gesinnungsfesten. Er ist strikt gegen
       Kriege, vor allem wenn die Nato oder die USA beteiligt sind. Die Welt ist
       insofern klar geteilt: Hier die Bewegung (wer immer das gerade sein mag)
       und die Linkspartei, vielmehr deren linker Flügel. Auf der anderen Seite:
       Kapital. Militär. Rüstungslobbyisten. EU. Das Imperium aus „Star Wars“.
       
       Und Abweichler in den eigenen Reihen. Dem Ostpragamtiker André Brie, der
       die EU positiver und Oskar Lafontaine skeptischer sah als die Westlinke,
       bescheinigte Pflüger 2009, „objektiv Sabotage“ des Wahlkampfs der Partei
       betrieben zu haben. Dissens als Sabotage. Er klingt manchmal wie ein
       Politkommissar.
       
       Tobias Pflüger ist ein eloquenter Redner, oft schneidend rigoros – beides
       Eigenschaften, die man in schwäbischen Pfarrhäusern wohl lernen kann. Er
       sagt über sich: „Ich bin ein Bewegungslinker.“ Aber mit den sozialen
       Bewegungen ist es so eine Sache. „Sie kommen und gehen – vor allem gehen
       sie“, hat der Soziologe Ulrich Beck mal bemerkt. Pflüger wartet und hält
       die Fahne hoch. „Das Protestpotenzial ist da“, sagt er. Es schlummert nur.
       Es braucht Bewegungsroutiniers wie ihn, um den Protest zu wecken.
       Irgendwann. Zwischendurch will er ins EU-Parlament.
       
       ## Die DNA der West-Linken
       
       In Hamburg beim Europaparteitag der Linkspartei werden Pflüger und Händel
       gegeneinander kandidieren, für Platz 2. Zwei Westler, aber verschiedene:
       Der WASG-Mitbegründer Händel gehört zur DNA der West-Linkspartei, Pflüger
       nicht. Dafür hat er ein Thema, das zu den Identitätskernen der Partei
       gehört: Krieg.
       
       Händel ist Favorit, auch weil er mehr Unterstützung im Osten hat. Zwei
       Drittel der Delegierten sind aus dem Osten. Es ist das erste Mal, dass es
       keine Quote mehr für die Westverbände gibt. Es wird Kampfabstimmungen über
       aussichtsreiche Listenplätze geben. Manche linke Linke fürchten einen
       Durchmarsch der Ostpragmatiker.
       
       Pflüger gegen Händel, das ist ein kleiner Wegweiser, wohin es mit der
       Partei gehen soll. Ob sie Daueropposition sein will, die ihre Grundsätze
       bewacht wie die Bank von England die Goldreserven. Ob sie nur große Worte
       schätzt oder auch kleine Schritte.
       
       14 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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