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       # taz.de -- Steigende Mieten: „Die Menschen sind existenziell bedroht“
       
       > Gentrifizierung betrifft nicht mehr nur einzelne Viertel, sondern
       > flächendeckend die ganze Stadt, sagt die Forscherin Ilse Helbrecht. Sie
       > zeigt: Betroffene versuchen in ihrem Umfeld zu bleiben - auf Kosten der
       > Wohnqualität.
       
   IMG Bild: Eine neue Wohnung zu finden, ist schwierig geworden.
       
       taz: Frau Helbrecht, die Gentrifizierung vertreibt die Armen aus der
       Innenstadt an den Stadtrand – stimmt das? 
       
       Ilse Helbrecht: Unsere Studien zeigen eher: Die meisten Bewohner, die wegen
       steigender Mieten aus ihrer Wohnung müssen, versuchen unter allen Umständen
       in ihrem Kiez zu bleiben. Sie nehmen dafür hohe Einbußen der Lebensqualität
       in Kauf. Wo genau Verdrängte hinziehen, ist empirisch aber sehr schwer
       herauszufinden. Denn wenn in einem Viertel Gentrifizierung stattfindet,
       sind die Verdrängten ja bereits weg, und man kommt kaum an sie heran.
       
       Sie sind mit Ihren Studenten der Frage nachgegangen, wo die Verdrängten
       hinziehen. 
       
       Verdrängung – also der Austausch von statusniedrigen Bevölkerungsgruppen
       durch statushohe – ist per Definition ein Teil von Gentrifizierung. Aber
       dennoch weiß die Stadtforschung wenig über die Verdrängten: Wo ziehen sie
       eigentlich hin? Welche Folgen hat die Verdrängung für die Betroffenen? Wir
       haben deshalb auf fast kriminalistischem Weg recherchiert, um
       herauszufinden, wo Menschen hinziehen, die ihre Wohnungen verlassen müssen.
       
       Kann man das nicht aus den Einwohnerstatistiken ablesen? 
       
       Anders als in London oder New York ist das in Deutschland besonders
       schwierig. Wir haben keine Volkszählung, die regelmäßig Daten liefert, aus
       denen man den Wandel von Einkommen, Alter oder Bildungsniveau im Kiez
       ablesen kann.
       
       Wie sind Sie vorgegangen? 
       
       Eine Studentengruppe hat aus den verfügbaren Daten Kriterien verschiedener
       Stadien der Gentrifizierung entwickelt und diese grafisch dargestellt. 2009
       hat der Stadtforscher Andrej Holm eine ähnliche Karte erstellt. Vergleicht
       man diese beiden Karten, lässt sich die erste dramatische Botschaft
       ableiten.
       
       Die Gentrifizierung hat sich ausgebreitet? 
       
       2009 waren in Berlin noch einzelne Stadtviertel oder Teile davon betroffen:
       Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg. In Neukölln begann die
       Aufwertung gerade. Schon 2011 ist Gentrifizierung in Berlin quasi ein
       flächendeckendes Problem, und zwar nicht mehr nur in der Innenstadt,
       sondern zu Teilen auch schon außerhalb des S-Bahn-Rings.
       
       Warum ist Berlin so stark von Aufwertung betroffen? 
       
       Gentrifizierung ist kein neues Phänomen. Den Begriff hat Ruth Glass
       erstmals 1964 verwendet, da begannen diese Entwicklungen in London oder New
       York bereits. Sie sind Teil des Übergangs von einer industriellen zu einer
       Dienstleistungsgesellschaft. Früher lagen in den Zentren, etwa entlang der
       großen Flüsse, die Fabriken, drumherum siedelten die Arbeiter und
       Einwanderer. Im Dienstleistungszeitalter fassen dort nun neue Unternehmen
       Fuß und ziehen ein ganz anderes Publikum als Bewohner und Arbeitskräfte in
       die Städte. Das ist ein globales Phänomen. Besonders an Berlin ist nur,
       dass dieser Prozess so spät eingesetzt hat.
       
       Und dafür umso schneller? 
       
       Genau. Alle Beteiligten wissen heute, wie Gentrifizierung funktioniert. Die
       Investoren können ziemlich genau vorhersagen, wo die Mietpreise bald
       steigen. Berlin hat im Vergleich zu anderen Städten immer noch ein sehr
       günstiges Mietniveau.
       
       Gleichzeitig ziehen immer mehr Menschen nach Berlin. 
       
       Und es fehlt an Wohnungen. Es wird insgesamt in Berlin noch zu wenig
       gebaut, und wenn, dann überwiegend Eigentumswohnungen. Das hat natürlich
       auch einen positiven Effekt: Jede Mittelschichtfamilie, die sich in eine
       Eigentumswohnung rettet, gibt eine Mietwohnung frei. Andererseits führt es
       gleichzeitig wieder zu Aufwertung. Denn wenn wohlhabende
       Mittelschichtfamilien in ein bisher armes Viertel ziehen, verändert sich
       die Infrastruktur, dann machen dort Bioläden auf, neue Kitas. Wir nennen
       das „kommerzielle Gentrifizierung“.
       
       Das muss nicht schlecht sein. 
       
       Nein, muss es nicht. Aber erstens verändert es den Charakter eines
       Gebietes, sodass angestammte Kiezbewohner sich unwohl fühlen können.
       Zweitens nehmen häufig Hausbesitzer dies zum Anlass, ebenfalls die Miete zu
       erhöhen. Und was die Situation in Berlin brisant macht, ist der sehr hohe
       Anteil an verletzlichen Bevölkerungsgruppen.
       
       Fast 20 Prozent der Berliner bekommen Sozialleistungen, ein Drittel der
       Kinder gilt als arm. 
       
       Diese Gruppen sind doppelt betroffen. Zum einen unterliegen genau die
       Viertel, wo diese Menschen leben, derzeit am stärksten der Aufwertung. Je
       geringer das Einkommen und die Bildung, desto stärker sind Menschen auf
       ihren Kiez bezogen. Dort haben sie ihre Freunde, Familie, Menschen, die sie
       im Alltag unterstützen. Sie verlieren mit einem Umzug viel mehr als nur
       ihre Wohnung. Wir haben auch Interviews in Jobcentern geführt mit Personen,
       die dazu aufgefordert werden, ihre Miete zu senken, etwa durch einen Umzug.
       Diese Menschen fühlen sich nicht nur bedrängt, sondern existenziell
       bedroht.
       
       Was machen diejenigen, die ihre Wohnung verlassen müssen? 
       
       Zumindest ziehen sie nicht nach Marzahn oder Hellersdorf. Eine
       Studentengruppe hat im Rahmen unseres Projekts zwei Kieze untersucht und
       dort Befragungen durchgeführt: am Görlitzer Park und in der
       Heinrich-Heine-Straße. Fast die Hälfte aller Anwohner würden vieles tun, um
       im Kiez zu bleiben. Sie ziehen dann vielleicht ins Hinterhaus oder ins
       Erdgeschoss oder wohnen auf weniger Fläche.
       
       Und wenn das nicht geht? 
       
       Dann zieht man etwa von Kreuzberg nach Neukölln, in einen Bezirk, der dem
       alten ähnlich ist. Das Leibniz-Institut in Erkner hat detaillierter
       untersucht, welche Wanderungsbewegungen es zwischen Prenzlauer Berg und
       Wedding gab. Da zeigt sich, dass in dem Maß, wie Prenzlauer Berg
       aufgewertet wurde, immer mehr Menschen nach Wedding abgewandert sind. Damit
       wird aber auch Wedding wieder interessanter, denn die neu Zugezogenen
       verändern den Kiez.
       
       Hat die Politik keinen Einfluss auf diese Entwicklungen? 
       
       In der Vergangenheit sind in den Berliner Sanierungsgebieten, wo die Stadt
       direkt interveniert hat und etwa Armut aufbrechen oder Infrastruktur
       verbessern wollte, die Mieten und Einkommen der Bewohner über den
       Durchschnitt der Gesamtstadt gestiegen. Sanierung war gewollt,
       Gentrifizierung ist entstanden. Sanierungsmaßnahmen sind gut gemeint, haben
       aber ungewollte Nebeneffekte.
       
       Wie sieht Berlin in 20 Jahren aus? 
       
       Das Negativszenario wäre natürlich eine vollkommen durchgentrifizierte
       Stadt wie London, wo die Innenstadt selbst für die Mittelschicht
       unerschwinglich ist. Mit allen Verlusten an Wohnqualität, die damit
       einhergehen: beengte Wohnverhältnisse, Menschen, die mehrere Stunden am Tag
       zur Arbeit pendeln.
       
       Muss das so kommen? 
       
       Bestimmt nicht. Es ist auch ein Vorteil, dass Berlin spät dran ist. Man
       weiß, was passiert, und kann gegensteuern. Im besten Fall gibt es in Berlin
       auch in 20 Jahren noch erschwingliche Wohnungen und durchmischte Viertel in
       der Innenstadt.
       
       Auch Familie Gülbol, die vor einem Jahr unter großen Protesten aus ihrer
       Wohnung in Kreuzberg geräumt wurde, musste zusammenrücken: Eltern und
       Kinder wohnen mit den Großeltern auf 110 Quadratmetern. Mehr dazu in der
       taz.am wochenende
       
       15 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juliane Schumacher
       
       ## TAGS
       
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