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       # taz.de -- Hongkong-Kino auf der Berlinale: Die Mystery-Sause dreht frei
       
       > Verpasste Apokalypsen und Faltenwurf im Raum-Zeit-Kontinuum: „The
       > Midnight After“ und „That Demon Within“ im Berlinale-Panorama.
       
   IMG Bild: Kurz vor der Apokalypse, die im Bus beginnt: Szene aus „The Midnight After“.
       
       Zunächst sind da: Farben. Unfassbar viele Farben, Schlieren, Lichtreflexe.
       Eine Metropole in der Nacht - taghell und nichts als brummende Hektik:
       Hongkong, 2013. Wenn man sich Asiens Großstädte immer schon als Zentren der
       Akzeleration vorgestellt hat, findet man in den ersten Einstellungen von
       Fruit Chans „The Midnight After“ den dafür besten Bildbeleg.
       
       Doch baut der treuen Berlinale-Gängern seit „Dumplings“ (2004) als Garant
       für kontroverse Stoffe bestens bekannte Regisseur mit diesem optischen
       Exzess lediglich Fallhöhe auf: Nur eine Tunnelfahrt später finden sich die
       sozial gut gemischten Fahrgäste eines Busses in einer Stadt wieder, in der
       die plötzliche Anwesenheit der Abwesenheit aller übrigen Menschen geradezu
       Albdruck entwickelt.
       
       Was ist geschehen? Verpasste Apokalypse? Faltenwurf im Raum-Zeit-Kontinuum?
       Und warum erliegen manche der 16 Fahrgäste - monströse Fabulierkunst: jeden
       davon lernt man kennen - rätselhaften Krankheiten, wenn sie nicht in
       Flammen aufgehen, zu Staub zerfallen oder Visionen haben?
       
       In einem Imbiss sammelt man sich zur Erörterung der Lage, soweit einzelne
       Vorbehalte untereinander dies gestatten.
       
       ## Ganz ohne Erklärbärentum
       
       Als Zuschauer denkt man dabei kurz an „Lost“. Doch während die US-Serie ein
       kontrolliertes Erzähl-Environment aufbaut und mit einer souveränen
       Perspektive lockt, von der aus sich das Plot-Puzzle zu einem großen Ganzen
       fügt, drehen in „Midnight After“ die Zentrifugalkräfte der Mystery-Sause
       völlig frei: Exzesslust statt Erklärbärentum!
       
       Chan vernäht zu einem Monstrum, was kaum vernähbar ist: Apokalypsen-Pathos
       und Hongkong-Nonsense-Humor. Sozialallegorie und Horror-Trash. Blutrunst
       und pop-sensible Indie-Schrulligkeit, wenn ein Musiknerd sich mit David
       Bowies „Major Tom“ in den Himmel über Hongkong beamt. Da ist Chan
       kurzzeitig der Michel Gondry Hongkongs, nur um gleich wieder zu sudeln wie
       sonst nur Takashi Miike.
       
       Chan stellt sich mit dieser von jeder Auflage zum dramaturgisch ebenen
       Erzählen völlig freien Form in eine zuletzt etwas aus dem Blick geratene
       Tradition des Hongkong-Kinos, das lange eines der wildesten und spontansten
       weltweit war.
       
       ## Katerstimmung im Verhältnis zu China
       
       Dass es ihm dabei auch um ein allegorisches Stimmungsbild der einstigen
       Kronkolonie 16 Jahre nach der Übergabe an China geht, erahnt man eher, als
       dass es einem fertig ausformuliert präsentiert wird. Das mag mit der
       chinesischen Zensur zusammenhängen; im Presseheft spricht der Regisseur von
       einer allgemeinen Katerstimmung in der Stadt bezüglich deren Zukunft im
       Verhältnis zu China.
       
       Wohl wahrscheinlicher ist aber, dass einem schlicht der Eindruck aus erster
       Hand fehlt. In Hongkong, wo es lange - im Zuge der Orientierung ans
       chinesische Festland hat sich dies etwas verschoben - zentraler Bestandteil
       der Kinokultur war, den eigenen Lebensmittelpunkt auf der Leinwand
       verhandelt zu sehen, herrschen diesbezüglich andere Sensibilitäten.
       
       Die überschaubare Zahl von Drehorten begünstigte schon immer diverse
       Querverbindungen zwischen den Hongkong-Filmen. Chans „Midnight After“ ist
       denn auch in einer nahezu identischen Einstellung gewissermaßen am Bauch
       mit Dante Lams ebenfalls im Panorama gezeigten „That Demon Within“ vernäht.
       
       Darin verschiebt Lam, ein Meister des kompromisslosen Actionfilms, dessen
       Filme das Festival erfreulich regelmäßig ins Programm holt, den
       actionlastigen Hongkong-Polizeithriller in eine vom Horrorkino infizierte
       Revue mehrfach ineinander geschobener, aufbrechender Traumata: Ein
       neurotisch penibler Polizist rettet einem Schwerstverbrecher mit dem
       sprechenden Namen Hon Kong per Bluttransfusion gewissermaßen aus Versehen
       das Leben. Von Schuldgefühlen geplagt, will er ihn eigenhändig zur Strecke
       bringen.
       
       ## Eine Abfolge drastischer Wutausbrüche
       
       Dass in der anschließenden Abfolge drastischer Wutausbrüche und meisterlich
       konzipierter Setpieces ein allegorischer Mehrwert liegt, schwingt hier
       allerdings eher lose mit, als dass es sich, zumindest dem westlichen
       Zuschauer, vordergründig offenbart.
       
       Und spätestens wenn er ganze Autos mit Karacho in Tankstellen schleudert,
       entpuppt sich Lam einmal mehr als cine-obsessiver Skulpturist des
       Bewegungskinos, den zum Glück weder guter Geschmack, noch Auflagen zum
       dezenten Storytelling bändigen können.
       
       Unter der teils grotesken Textur beider Filme rumort es auf eine Weise, die
       über die künstlichen Realitäten des dynamischen Hongkong-Kinos spürbar
       hinaus weist. Der interessierte Blick auf die nähere Zukunft dieses Kinos
       am Rockzipfel der chinesischen Macht dürfte sich lohnen.
       
       15 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Groh
       
       ## TAGS
       
   DIR Thriller
   DIR Ai Weiwei
   DIR Richard Linklater
   DIR Volker Schlöndorff
       
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