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       # taz.de -- Erinnern an den Ersten Weltkrieg: Zukunftsangst geht immer
       
       > In der medialen Gedenkindustrie hat das Präapokalyptische Konjunktur. Wir
       > stehen erneut kurz vor der Katastrophe, dafür ist keine Analogie zu
       > dämlich.
       
   IMG Bild: Schönes Schaudern: Gasmaskenträger im Ersten Weltkrieg.
       
       Kann sich Geschichte wiederholen? Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und
       der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik sind wir in einer Art
       postapokalyptischer Wiederholungsphobie gefangen. Alles sei dafür zu tun,
       „daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe“, forderte
       kategorisch der Chefintellektuelle der zweiten Republik, Theodor W. Adorno,
       vor einem halben Jahrhundert.
       
       Dieser unantastbare Imperativ erscheint nun beim Rückblick auf die
       „Urkatastrophe der Moderne“, wie der Erste Weltkrieg zu seinem Jahrestag
       gerade gerne apostrophiert wird, in einem neuen Licht. Der geschichtliche
       Rückgriff hinter den Holocaust scheint einen Raum zu öffnen, in dem sich
       das lange Zeit alles beherrschende Gefühl, im posthistoire, in einem
       postapokalyptischen Zeitalter „nach Auschwitz“ zu leben, sichtlich
       verändert. Das neue Geschichtsbewusstsein, das sich in zahlreichen
       Betrachtungen zum Weltkriegsjubiläum vielstimmig artikuliert, ist
       zukunftsorientiert und – präapokalyptisch.
       
       Dabei scheinen die Gründe, die heutige Weltlage „strukturanalog“ zur
       Vorkriegszeit zu deuten, mitunter zweitrangig gegenüber dem Reiz, sich als
       Diagnostiker der anstehenden Katastrophe zu positionieren. Denn die
       Analogien sind, bei genauerer Betrachtung, recht weit hergeholt.
       
       Wenn etwa der Spiegel die Drohung, „einen Staat wie Griechenland in die
       Pleite zu schicken“, mit der Mobilmachung der Streitkräfte in früheren
       Tagen vergleicht und als Beleg für die zur Zeit des Ersten Weltkriegs schon
       weit fortgeschrittene Globalisierung ins Feld führt, die Deutschen hätten
       damals „Jacken aus indischer Baumwolle“ getragen und „Kaffee aus
       Zentralamerika“ getrunken, zeigt das vor allem eins: den Wunsch, eine
       Ähnlichkeit der Ausgangslagen herbeizuzaubern, die suggerieren soll, wir
       stünden am Rand eines neuen Kataklysmas. Schöner Schauder!
       
       ## Punkten mit dem Morbus germanicus
       
       Der eigentliche Tummelplatz des präapokalyptischen Denkens aber sind
       Spekulationen über aktuelle psychologische Faktoren und Stimmungen, die
       angeblich der kollektiven Gemütslage vor 1914 entsprechen. Dass wir „in
       einer Zeitenwende“ lebten, wird von marktkonformen Psychologen mit
       „diffuser Zukunftsangst“ begründet, die ein furchtsames Verharren in der
       Gegenwart stimuliere: Das Kommende erscheine als bedrohliches „schwarzes
       Loch“.
       
       Auf diesem analytischen Niveau dürfen dann sogar die Große Koalition und
       die Popularität des „nationalen Ruheengels“ Angela Merkel als Beweisstücke
       für die künftige Katastrophe herhalten. Kein Indikator ist beliebiger
       manipulierbar als die Angst – nicht zuletzt deshalb, weil sie schwerer zu
       messen und zu bewerten ist als andere Faktoren. Desto leichter lassen sich
       mit dem Morbus germanicus, der deutschen Angstlust, Punkte im Kampf um
       Aufmerksamkeit machen.
       
       Ein Jahr vor der realen Zeitenwende von 1989 beschrieb Erich Wiedemann
       diese Lust am Untergang als die deutsche Leidenschaft, „Schlimmes künstlich
       nachzuschlimmern“: Eine „Weltschau, die das Ausmaß von Unheil durch
       Übertreibung entstellt“, so der Autor, trage dazu bei, „dessen Abwendung zu
       erschweren“. Sein Fazit: „Die Zukunft von gestern ist fast nie die
       Gegenwart von heute. Die Erfahrung lehrt das Gegenteil von dem, was die
       Apokalyptiker lehren. Aber Erfahrung zählt selten in der Politik.“
       
       ## Kraftlose Wiederholungsphobie
       
       Offenkundig ist diese Erfahrungslosigkeit nicht auf das Feld der Politik
       beschränkt. In dem Maße, wie – durch Generationswechsel, die neue
       weltpolitische Rolle Deutschlands und eine allmähliche Erosion des
       moralisch-pädagogischen Menetekels – die alte Wiederholungsphobie an Kraft
       verliert, bekommt die zukunftsorientierte Variante des apokalyptischen
       Denkens Auftrieb.
       
       Die Verzauberung der Gegenwart zum präapokalyptischen Zeitalter ist ein
       Phänomen, das noch genauer Analyse und Deutung bedarf. Nimmt man die
       aktuellen wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen zum
       Kriegsjubiläum als Indikator, dann handelt es sich um eine recht weit
       verbreitete Stimmung: ein Phänomen, das sich möglicherweise tatsächlich mit
       Aspekten der Gefühlslage vor 1914 vergleichen lässt.
       
       Der damals vorherrschende, den Zeitgeist prägende Gemütszustand ist als
       Mischung aus Erstarrung und Überdruss oft genug beschrieben worden. Auch
       wenn niemand expressis verbis einen Krieg herbeigesehnt haben mochte,
       erkennbar ist die Fantasie eines erlösenden Big Bangs, der das „tödliche
       Gift der Langeweile“, wie es der damals 17-jährige Ernst Jünger nannte,
       vertreiben sollte. Inmitten der erstickenden Realität des späten
       Kaiserreichs hatte sich, als Konterpart zur Krisenangst, der Wunsch nach
       einer befreienden Explosion eingenistet; etwas, das versprach, das
       entgleitende Leben wieder fühlbar zu machen und mit Sinn zu füllen.
       
       „Wie streng und groß wird der Krieg als moralische Reinigungskrisis, als
       grandioses Hinwegschreiten des Lebensernstes über alle sentimentalen
       Verwirrungen fühlbar“, schrieb Thomas Mann im letzten Vorkriegsjahr. Er
       meinte den von 1870/71, traf aber perfekt die aktuelle Stimmung.
       
       ## Tod statt Langeweile
       
       Die sich wenige Monate später in ekstatischer Kriegsbegeisterung entlud.
       Mit einem Schlag war die tödliche Langeweile durch die existenzielle
       Konfrontation mit Abenteuer, Triumph und Tod beseitigt. „Das Leben verarmt,
       es verliert an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen,
       eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf“, schrieb Sigmund Freud
       kurz nach Kriegsbeginn und konstatierte, seiner Abneigung gegen das
       kollektive Töten zum Trotz: „Das Leben ist freilich wieder interessant
       geworden, es hat seinen vollen Inhalt wiederbekommen.“
       
       Sollte am Ende der Wunsch nach einer gewalttätigen „Reinigungskrise“
       tatsächlich so etwas wie ein anthropologisches Gesetz sein? Dann wäre das
       kollektive Menschenopfer des Kriegs eine zyklisch auftretende Forderung des
       Lebens. Oder des Todes? Jedenfalls eine negative Utopie, die das
       apokalyptische Denken in Endzeitvorstellungen auf eine Art hysterischen
       Reflex reduziert.
       
       Damit, immerhin, wäre die artistische Suche nach Geschichtsanalogien, die
       vom Kitzel der Angstlust, vom schaudernden Behagen am Unbehagen motiviert
       ist, neu deutbar. Nicht als Kennzeichen des bevorstehenden Untergangs,
       sondern als Symptom des ewig endzeitlichen Kampfs um einen Platz an der
       Sonne des Aufmerksamkeitsmarkts.
       
       16 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Schneider
       
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