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       # taz.de -- Uraufführung im Kleinen Haus: In den Trümmern des Lebens
       
       > Oskar Roehlers Vita spiegelt Höhen und Tiefschläge der Nachkriegs-BRD
       > zwischen Wirtschaftswunder und RAF.
       
   IMG Bild: Matthieu Svetchine ist Oskar Roehlers Alter Ego Robert Freytag.
       
       Es ist dann doch ein toller Schauspielabend gewesen. Das muss vorab gesagt
       werden, weil es auch einiges zu nörgeln gibt an der Uraufführung der
       Bühnenversion von Oskar Roehlers „Herkunft“. Den autobiografischen Roman –
       oder wär’s eher eine romanhafte Autobiografie? – hat Roehler 2011
       veröffentlicht und später selbst mit extremer Überlänge verfilmt. Das
       Theater überbietet die um eine halbe Stunde. Leider.
       
       Denn 3,5 Stunden – so lange bannt das Leben Roehlers nicht, auch wenn sein
       Papa Kassenwart der RAF, Gruppe-47-Schriftführer und Gründungslektor bei
       Luchterhand war und die Mama Gisela Elsner die Tochter eines
       Siemens-Managers und scharfzüngigste Frau und geilstes Weib der
       Nachkriegsliteratur: Fast 600 Seiten hat das Buch. Komprimieren, weglassen,
       das wäre wichtig gewesen. Zumal sich Regisseur Frank Abt und Dramaturgin
       Viktorie Knotová weniger für das zeitdramatische Fresko interessieren, als
       fürs Kammerspiel-Potenzial der Vorlage. Sinnvoll. Bloß: Dass es ein Kind
       nicht richtig gut hat, wenn es zwischen zwei sauf- und fickfreudigen
       Halb-Genies aufwächst, deren Ehe mit seiner Geburt ins Stadium eines
       Stellungskrieges übergeht, ist rasch kapiert. Es gewinnt nicht an Spannung
       dadurch, dass es Regisseur und Dramaturgin einfällt, im zweiten Teil die
       Chronologie der zu zahlreichen Szenen durcheinanderzuwirbeln. Und wie ein
       ranschmeißerischer Trick zum Herzwärmen wirkt’s in Teil eins, kleine Kinder
       auf die Bühne zu stellen, um verzichtbare Rollen auszufüllen. Vor allem
       weil ja die wichtigen Kinderrollen im Teil zwei erwachsene
       SchauspielerInnen übernehmen – und Nadine Geyersbach ist, wenn sie den
       Rockbund übern Bauchnabel refft, eine viel sechsjährigere Sechsjährige, als
       jede Sechsjährige je sein kann.
       
       Womit bereits die Liste der Gründe eröffnet wäre, weshalb es doch ein
       grandioser Theaterabend wird. Denn einerseits switchen die
       SchauspielerInnen mit Lust durch ihre Rollen und wühlen sich doch zugleich
       tief in sie hinein: Sie kosten ihre Höhen und mehr noch die Tiefschläge
       aus, die eben jene der politisch-intellektuellen Nachkriegszeit sind, vom
       Wiederaufbau-Wirtschaftswunder bis zur RAF, vom Vollspießertum über die
       cordbehoste Intellektualität bis zum Revoluzzerwahn. Andererseits haben Abt
       und Knotková eines fast genialisch gelöst: Anders als mindestens seit
       Goethe in der Dramatisierer-Branche üblich, haben sie mit klugem Griff das
       Romanhafte dieser Autobioprosa, die Reflexion, nicht gelöscht, sondern auf
       die Bühne geholt: Das Erinnern, das Wiederholen, das Durcharbeiten –
       verkörpert Matthieu Svetchine.
       
       Reflexion, das heißt … – also: Ein Roman, behauptet Stendhal, sei ein
       Spiegel, der entlang eines großen Weges spaziere. Ein Zitat, dessen
       verrätselter Sinn einem in dem Moment schlagartig aufgeht, in dem man
       Svetchine in Bremen als alter Ego des Oskar Roehler auftreten sieht, lange
       bevor dieser als Figur des Robert Freytag geboren wird. Die wird Svetchine
       als entzückender Säugling, begriffsstutziges Schulkind und in verzweifelte
       Libertinage sich flüchtender junger Erwachsener spielen. Doch er ist eben
       schon vorher auf der Bühne, zugleich an- und abwesend, durchsichtig –
       obwohl er ja keiner von diesen zerbrechlichen Typen wäre oder so – eine
       geisthafte Präsenz, wie ein Hauch: Ab und an sagt er etwas, sehr wenig,
       sehr sporadisch, mit nahezu objektiver Stimme, stellt die Personen vor,
       nennt sie. Einmal darf er einer der Frauen Feuer geben. Meist bleibt er
       stumm, mit der passiven Würde des Gegenstandes, unaufdringlich, ein stummer
       Erzähler, der Zauberspiegel des Romans.
       
       In dem aber zeichnen sich alle Regungen der anderen Figuren ab, wiederholen
       sich ihre Szenen, ihre Irrungen gewittern übers Gesicht, das er,
       rätselhaft, vom persönlichen Ausdruck hier befreit zu haben scheint, zur
       glatten Oberfläche zurücknimmt. Da ist die tiefe und tief anrührend
       gespielte Enttäuschung des Alexander Swoboda, der sich als Kriegsheimkehrer
       Erich Freytag nicht willkommen fühlt, zu Hause – und’s auch nicht ist. Da
       zeigt sich, mehr als in deren Dialog, die Konkurrenz zwischen den Brüdern
       Heinz und Rolf um die Zuneigung ihres Gartenzwerge fabrizierenden Vaters,
       Opa Erich. Und da flackert auch der überdrehte Charme von Roberts künftiger
       Mama, der jungen Nora Ode, deren Zombifikation Lisa Guth später leider so
       zu spielen versucht, wie Hannelore Elsner sie im Film „Die Unberührbare“
       gibt.
       
       Alles ist da, leuchtet kurz auf, als Erstaunen, als Zweifel, als Amüsement
       – und verlischt. Magisch – und im extrem disziplinierten Spiel der
       vollkommene Kontrast zum großen, explosiven Monolog, in dem Svetchine den
       Abend beenden darf: Eine ziellose Wutrede, deren Wörterflut nichts
       hinterlässt als die Trümmerlandschaft eines Lebens unter Geistern.
       
       ## Nächste Aufführungen: 13. 2. & 1. 3., 19 Uhr; 23. 2., 18.30 Uhr
       
       11 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater Bremen
   DIR Rote Armee Fraktion / RAF
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