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       # taz.de -- „Top Girls“ auf der Berlinale: Posttraditionelle sexuelle Emojobs
       
       > Mit ihrem Film über Sexarbeit zeigt Tatjana Turanskyj die unklaren
       > Grenzen zwischen Rollen und Personen auf. Für die Pointen fehlt oft die
       > richtige Form.
       
   IMG Bild: Julia Hummer spielt die Prostituierte Jacky.
       
       Der Blick von der bordellartigen Arbeitsstätte auf die verschneite
       Torstraße Ecke Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin ist fast so etwas wie ein
       Establishing Shot in Tatjana Turanskyis „Top Girl“, dem zweiten Teil einer
       Trilogie über Frauen und Arbeit.
       
       Einmal schwenkt die Kamera nach rechts und man sieht am Bildrand den
       Bühneneingang der Volksbühne: wie zeitgenössisches Theater wirkt vieles an
       diesem Film. Er spielt mit Aussageebenen, die Dialoge enden im
       Missverständnis, Begegnungen sind Verfehlungen, Zuschauer werden direkt
       angesprochen.
       
       Als Ausgangspunkt ist das gar nicht so schlecht, denn die Rolle der Jacky,
       die Julia Hummer spielt, ist nicht so sehr die einer Sexarbeiterin oder
       Prostituierten, sondern einer Darstellerin. Sie hat Theaterprobleme. Die
       Übergänge zwischen etablierten Formen des Schauspiels, der Performance in
       Beruf- und Familienleben, Pflegearbeit und eben auch Sexarbeit werden
       fließender.
       
       Das Angebot, eine „notgeile“ Figur zu spielen, das Jacky bei einem Casting
       gemacht wird, empfindet sie dann nicht zu Unrecht als deutlich unsittlicher
       als die komplizierten Skripts, die sich ihre Kunden für sie ausdenken.
       
       Seine stärksten Momente hat der Film dort, wo er diese Begegnungen zeigt
       und gegen die klassische Erzählung vom autoritären Businessmann, der sich
       wie auf Zauberbefehl zu Beginn der S/M-Inszenierung in ein sabberndes
       Masobaby verwandelt, vor allem die Brüchigkeit dieser Fiktionen vorführt:
       das routinemäßig Unklare der Grenze zwischen Rolle und Person und die
       Zunahme solcher Situationen in einem dereguliert sexualisierten Alltag.
       
       Die Freier sind kalt, aber auch dünnhäutig, ein bisschen queer, müssen
       selber den ganzen Tag Authentizität performen; die allgemeine
       Pflegebedürftigkeit der Gesellschaft mischt sich mit ungerichteter
       Geilheit: Frauen, die in beiden Bereichen traditionell arbeiten mussten,
       kassieren aber nicht etwa die Deregulierungsdividende, sondern müssen nun
       posttraditionelle pflegende und sexuelle Emojobs machen.
       
       Leider findet „Top Girl“ nicht die Form für seine zahlreichen und oft auch
       das naturgemäß eh ausgefranste Thema verlassenden Beobachtungen. Am Anfang
       gibt es eine klischeehafte Anklage per Aufzählung der sexuellen Disziplinen
       und Konsumangebote, die eine wütende Julia Hummer einem prospektiven Kunden
       entgegenschleudert, am Ende eine surreal-allegorische Inszenierung dieser
       Anklage: Eine Werbeagentur veranstaltet für ihre als echte Waidmänner
       ausstaffierten Mitarbeiter eine Treibjagd auf vier nackte Frauen.
       
       Die Mischung aus Sadismus und Gotcha-Spiel hat die inzwischen zum Top Girl
       aufgestiegene Jacky als Dienstleisterin inszeniert und Freundinnen für die
       „Performance“ angeheuert. Was auf dem Wege von der Darstellerin zur
       Regisseurin in ihr vorgegangen ist, was sie sich hinter all den in
       schlechter Laune, Überanstrengung und Überdruss abgebrochenen Sätzen denkt,
       geht in den eher auf Einzelpointen inszenierten Szenen ein wenig verloren.
       
       11 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Diedrich Diedrichsen
       
       ## TAGS
       
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