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       # taz.de -- Hanse-Phantomschmerz: Abgedankte Königin
       
       > Lübeck sucht immer noch nach einem adäquaten Verhältnis zum verlorenem
       > Glanz als Zentrum der Hanse. Heraus kam ein Mix aus Tourismus und diffus
       > tradierten Kaufmannstugenden.
       
   IMG Bild: Ambivalentes Erbe: Ex-Hansekönigin Lübeck.
       
       LÜBECK taz | "Königin der Hanse" wurde Lübeck eigentlich per Zufall. Denn
       die Stadt an der Trave lag quasi auf halbem Weg zwischen den Hansekontoren
       Nowgorod, Brügge, London und Bergen. Außerdem nah an der wichtigen
       Handelsroute Ostsee. Von heute aus gesehen war die Königinnen-Kür
       allerdings eine Art Zonenrandförderung. Denn mit einst 14.000 Einwohnern
       war Lübeck auch vor 600 Jahren eine relativ kleine Stadt.
       
       Aber sie hatte wirtschaftspolitische Macht: Lübeck richtete die meisten
       Hansetage aus, prägte das für die Hanse gültige Lübische Recht und baute
       rund 200 Jahre lang Wohlstand aus; das zurückgelassene architektonische
       "Weltkulturerbe" zeugt davon. Doch spätestens seit dem letzten Hansetag
       1669 war das vorbei: Die Handelsrouten änderten sich, Lübeck verarmte,
       wurde Peripherie.
       
       Übrig blieb, neben der Backsteinpracht, die Vokabel "Hanse". Die trägt man
       immer noch gern im Namen, jede öffentliche Rede beschwört sie. Da wäre es
       arg verwunderlich, wenn das Mantra nicht auf die Bewohner wirkte. Wie steht
       es also um Lübecks Hanseatenstolz?
       
       Nun ja, es gibt ihn - und auch wieder nicht, finden die Lübecker. Spricht
       man sie darauf an, leugnen sie nämlich zunächst heftig. Trauer?
       Phantomschmerz gar, weil der Glanz verging? Fehlanzeige, da erklären Kauf-,
       Kultur-, und Kirchenleute lieber sehr vernünftig, das sei längst
       Geschichte. Minuten später geraten sie dann doch ins Schwärmen: von der
       pittoresken Altstadt und von der Aura, die der Name "Lübeck" habe. "Das
       klingt einfach anders als Husum", sagt der Pastor der St.-Aegidien-Kirche,
       Thomas Baltrock.
       
       Er ist eigentlich ein Querdenker, der Sentimentalitäten weit von sich
       weist. Im Gespräch umkreist er das Thema zunächst weiträumig, aber
       irgendwann bricht es aus ihm heraus: dass Lübeck etwas Besonderes und ein
       echter Mythos sei. Jetzt klingt er fast pathetisch, und das nimmt er nicht
       zurück - ein Mann, ein Wort. Gut hanseatisch.
       
       Und die Kaufleute? Trauer über den Verlust des Glanzes fühle er zwar nicht,
       sagt der alt eingesessene Unternehmer Jochen Brüggen, aber das hansische
       Ethos - Weltoffenheit, internationale Kooperation, Berechenbarkeit -
       gefalle ihm. "Ich habe das Gefühl, dass aus der Beschwörung dieser Tugenden
       ein moralischer Appell erwächst."
       
       Aber das ist nur die eine Seite des Mythos Hanse. Denn erstens sind besagte
       Tugenden ja kein Lübecker Privileg. Zweitens galt das Fairness-Ethos vor
       allem innerhalb der Hanse. "Ganz so lauter und edel war die Hanse ja
       nicht", sagt Renate Menken, Vorsitzende der Possehl-Stiftung, die in Lübeck
       Vieles bewegt. "Die Hanse war auch ein sehr kriegerisches Unterfangen." Das
       zum Beispiel die schwedische Ex-Hansestadt Visby zerstörte, als sie zu
       stark und aufmüpfig wurde. Das bis heute existierende Ehrenamt und
       Bürgerengagement wiederum - das finde sie schon hanseatisch, sagt Menken.
       Darauf sei sie stolz.
       
       Es klingt ein bisschen nach Hassliebe, was die Lübecker über ihre
       Vergangenheit sagen - wie ein Kind, das sich die Liebe zur Mutter
       verbietet, weil es viel zu rational und kritisch ist dafür. Und weil sie
       vor lauter Ambivalenz nicht wissen, was sie mit ihrem Hanse-Erbe tun
       sollen, haben sie es in die Tourismus-Schublade gesteckt. In die
       Sonntagsreden beziehungsweise, so Menken, "ins Ornamentale". Da kann es
       nicht gefährlich werden.
       
       Und man kann so lustige Dinge feiern wie den "Hansetag": Organisator des
       jährlichen Spektakels ist der 1980 gegründete Kulturverein Neue Hanse.
       Beitreten kann jede Stadt, die sich "hansisch zugewandt" fühlt; 181
       Mitglieder sind es schon. Vormann ist der Bürgermeister von Lübeck, das
       auch den diesjährigen Hansetag ausrichtet. Und natürlich tobt dann das
       "Hansevolk" in Gestalt hansischer Kaufleute und eines Pestzuges durch die
       Gassen. "Wir tun das aus purer Lust am Verkleiden", sagt Angelika
       Schildmeier vom Hansevolk-Verein. "Nicht aus Nostalgie."
       
       Mit diesem Volksfest fährt der Verein Neue Hanse ganz gut; die Hansetage
       sind bis 2035 ausgebucht, und Lübeck hofft auf 750.000 Besucher. Aber so
       perfekt das Hanse-Marketing auch funktioniert: Ein Indiz für Wehmut ist das
       ganz sicher nicht, es bleibt beim Re-Enactment.
       
       Das 2015 zu eröffnende Hanse-Museum ist vielleicht zum Teil eine klassische
       kompensatorische Tat; immerhin wird es alle Facetten der Hanse zeigen.
       Trotzdem soll auch dieses Projekt vor allem als Tourismus-Motor dienen.
       Denn das Museum gilt als lang vermisste Image-Pflichtübung, und nur wenige
       glauben, dass der Hanse-Ballast dann auch ideell endlich ins Museum kommt.
       
       Und was das Haus schon gar nicht leisten kann: Lübecks wahren
       Phantomschmerz lindern - den Verlust der Eigenstaatlichkeit 1937. "Damals
       verlor Lübeck seine Funktionseliten", sagt Historiker Manfred Eickhölter,
       "und das schmerzt bis heute: dass Lübecks Archivar nicht auf Augenhöhe mit
       einer Bundesbehörde verhandeln kann." Dass man als die Provinz behandelt
       wird, die man eigentlich ist.
       
       "Lübeck ist heute - auf sympathische Art - nicht provinziell, aber doch
       regional aufgestellt", bestätigt Unternehmer Brüggen. Er sagt das fast
       nachsichtig. Da ist sie wieder, die sacht enttäuschte Liebe zur Königin der
       Hanse.
       
       11 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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