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       # taz.de -- Retrospektive Berlinale: Licht und Schatten
       
       > „The Aesthetics of Shadow“: Über Beleuchtung in japanischen,
       > amerikanischen und europäischen Filmen aus den ersten Jahrzehnten des
       > Kinos.
       
   IMG Bild: Betty Compson und George Bancroft in „The Docks of New York“ von Joseph von Sternberg, 1928.
       
       Nur für eine Nacht hat die Hauptfigur in Josef von Sternbergs „The Docks of
       New York“, ein von George Bancroft verkörperter Heizer, Landgang. Er
       entsteigt dem infernalischen, düster dampfenden Schiffsbauch, in dem er
       seine Tage verbringt, und stürzt sich im Hafenviertel der verruchten
       Nachtclubs und behelfsmäßig eingerichteten Apartments in die Liebe zu einem
       „gefallenen Mädchen“.
       
       Diese Liebe setzt sich in dem späten, atmosphärischen Stummfilm am Ende
       durch – gegen alle Wahrscheinlichkeiten, vor allem aber auch gegen den
       lockenden Ruf der beiden unterschiedlichen Schattenwelten, in der die
       beiden Liebenden vorher zu Hause waren. Gleichzeitig aber ist auch die
       Liebe dem Schatten entsprungen, und zumindest die Frau befürchtet, dass sie
       im hellen Licht des Tages wieder dahinschmelzen könnte.
       
       Die Ästhetik des Schattens ist also eine komplizierte Angelegenheit: Im
       Dunklen lauern die Ungeheuer, gleichzeitig ist man in ihm vor dem Zugriff
       der nüchternen Realität wenigstens vorübergehend sicher.
       
       „The Aesthetics of Shadow“, die diesjährige Retrospektive der Berlinale,
       versammelt japanische, amerikanische und eine Handvoll europäische
       Schattenfilme aus den ersten Jahrzehnten des Kinos. Zum zweiten Mal
       organisiert die Deutsche Kinemathek die Filmschau in Zusammenarbeit mit dem
       New Yorker MoMA, und tatsächlich gibt es auffallende Parallelen zur
       letztjährigen Reihe „The Weimar Touch“, die dem Einfluss deutscher
       Exilanten im internationalen Kino nach 1933 nachspürte.
       
       ## Visuelle Oberfläche des Kinos
       
       Wieder geht es um Filmgeschichte als einen internationalen Zusammenhang, um
       Einflussnahmen, Wechselwirkungen, (Un-)Gleichzeitigkeiten. Und wieder spürt
       die Filmschau diesen Interferenzen vor allem auf der Ebene des filmischen
       Stils nach: „Lighting Styles 1915–1950“ lautet der Untertitel. Vielleicht
       hat diese verstärkte Aufmerksamkeit für die visuelle Oberfläche des Kinos
       auch etwas damit zu tun, dass in diesen Jahren die letzte Gelegenheit
       bestehen dürfte, historische Filmprogramme weitgehend materialgetreu zu
       präsentieren.
       
       Mit wenigen Ausnahmen werden die Retro-Filme als 35-mm-Kopien vorgeführt –
       und werden ein weiteres und hoffentlich nicht letztes Mal den Beweis
       führen, dass auch die beste digitale Abtastung nur eine Ahnung geben kann
       von der ganz eigenen Materialität des Zelluloidbilds.
       
       Lichtsetzung im Kino ist natürlich ein weites Feld – schließlich ist bei
       jedem Film, der nicht einfach nur Schwarzbild zeigt, in der einen oder
       anderen Form Beleuchtung im Spiel. Schon das weist darauf hin, dass „The
       Aesthetics of Shadows“, stärker noch als „The Weimar Touch“, nicht einfach
       nur eine filmhistorische, sondern eine filmhistoriografische Retrospektive
       ist; nicht als Nacherzählung und Bebilderung einer bekannten Geschichte ist
       die Reihe angelegt, sondern als ein eigenständiges Forschungsvorhaben.
       
       Ihren Ausgangspunkt hat die Reihe in einer aktuellen akademischen Arbeit,
       einem erst 2013 veröffentlichten Buch des japanischstämmigen, aber in den
       USA arbeitenden Filmhistorikers Daisuke Miyao, dem sie auch ihren Titel
       entlehnt.
       
       ## Ästhetik des japanischen Films
       
       Miyao zeichnet nach, wie die eigenständige Ästhetik, die das japanische
       Kino in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ausbilden konnte, gerade
       nicht auf kulturanthropologische Konstanten (auf die sich zum Beispiel der
       Schriftsteller Tanizaki Jun’ichirô in seiner berühmten Schrift „Lob des
       Schattens“ beruft) zurückzuführen ist, sondern in einem intimen Dialog mit
       dem internationalen, vor allem mit dem amerikanischen Kino entstand.
       
       Er erzählt diese Geschichte entlang einzelner Biografien, zum Beispiel der
       Henry Kotanis, der zunächst als Kameramann den frühen amerikanischen Film
       mitprägte und anschließend in den 1920er Jahren das japanische Kino
       mithilfe der in Kalifornien erworbenen Kenntnisse modernisierte.
       
       Die Berlinale-Retrospektive zeichnet Miyaos Argument ausführlich nach. Was
       auch heißt, dass sich in den nächsten zehn Tagen die äußerst seltene
       Gelegenheit bietet, einen breiten Einblick in das historische japanische
       Filmschaffen zu gewinnen. Neben Klassikern wie Akira Kurosawas „Rashomon“
       werden auch Raritäten aus den ersten Jahrzehnten der japanischen
       Filmindustrie präsentiert, zum Beispiel Kotanis Sozialdrama „Das Licht des
       Herzens“ aus dem Jahr 1926.
       
       ## Muster aus Regenschirmen
       
       Oder, ein Geheimtipp innerhalb der Filmschau: das gut zehn Jahre später
       entstandene, wundervoll luftige Musical „Die Liederschlacht der
       Mandarinenten“ von Masahiro Makino. Da verliebt sich die Tochter eines
       Regenschirmherstellers in einen – auch von anderen Mädchen umschwärmten –
       herrenlosen Samurai, andauernd brechen die Figuren in fröhlichen Gesang
       aus, verarmen plötzlich, werden doch plötzlicher wieder reich und schmeißen
       am Ende für die Liebe alles hin. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle,
       erratisch und bezaubernd wie die immer wieder neuen Muster der den Film
       visuell rhythmisierenden Regenschirme.
       
       Besonders schattenintensiv oder auch nur dunkel ist der Film bei aller
       Kameravirtuosität allerdings nicht. Anders als im Weimarer Expressionismus
       – dessen filmisches Manifest „Das Kabinett des Dr. Caligari“ läuft parallel
       digital restauriert in der Reihe „Berlinale Classics“ – sind die Schatten,
       denen Miyao im japanischen Kino nachspürt, keine die Welt verschlingenden
       Manifestationen psychischer oder metaphysischer Untiefen.
       
       Eher geht es um sanfte Nivellierungen des Sichtbaren, um jene Schatten, die
       immer schon Teil der Objekte und Körper sind, um Schatten, die passiven
       Widerstand leisten gegen das Diktum der allumfassenden Sichtbarkeit, dem
       sich das Kino bis heute so oft verschreibt.
       
       ## Gefahr der Beliebigkeit
       
       Das sind natürlich abstrakte Unterscheidungen, zu denen die einzelnen Filme
       dann wieder fast notwendigerweise quer stehen. In solchen Abstraktionen
       zeigt sich auch das Risiko, das die Berlinale-Retro dieses Jahr eingeht.
       Eine Filmschau, die sich nicht entlang mehr oder weniger selbsterklärender
       Kategorien wie den Biografien der Regisseure oder Genres organisiert,
       sondern eine eigene Theorie des Kinos entwickelt, gerät leicht in Gefahr,
       beliebig zu wirken.
       
       In der Tat sind manche kuratorischen Entscheidungen alles andere als
       selbsterklärend: Der amerikanische Film noir zum Beispiel gilt zwar als
       Schattenkino par excellence, die Berlinale zeigt aus diesem Bereich aber
       ausgerechnet Jules Dassins „The Naked City“ (1948), der die berühmte
       Chiaroscuro-Beleuchtung gerade nicht einsetzt, stattdessen auf stilisierte
       Lichtsetzung komplett verzichtet, sich eher einem dokumentarischen Blick
       annähert.
       
       Anders herum kann man sich über Auslassungen wundern. Josef von Sternberg
       etwa, ein führender Schattenkünstler Hollywoods, der gerade in Japan
       besondere Anerkennung genießt, ist zwar mit gleich zwei Filmen dabei; eine
       besonders interessante Querverbindung hätte jedoch sein vorletzter Film
       sichtbar gemacht: Gegen Ende seiner Karriere hatte sich der in Amerika in
       Ungnade gefallene Meisterregisseur selbst nach Japan aufgemacht und da
       einen seiner auch visuell intensivsten Filme gedreht, der seltsamerweise
       schon bei Miyao unerwähnt bleibt: „The Saga of Anatahan“, ein
       weltvergessenes, erotomanes Drama, in dem am Ende das Gesicht der begehrten
       Frau ganz buchstäblich zu einem Scheinwerfer wird.
       
       Vielleicht allerdings spricht gerade das dafür, dass sich die Kinemathek
       mit dieser überaus ambitionierten Reihe auf dem richtigen Weg befindet: Man
       möchte sie im Kopf gleich fortsetzen, ausbauen, am besten bis in die
       Gegenwart hinein. Einem Filmprogramm wie „The Aesthetics of Shadow“ geht es
       nicht darum, einen abgeschlossenen Korpus zu erschließen, sondern neue Wege
       in die Filmgeschichte hinein sichtbar zu machen.
       
       6 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Foerster
       
       ## TAGS
       
   DIR Retrospektive
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   DIR italienisches Kino
   DIR Filmgeschichte
   DIR Hollywood
   DIR Nazif Mujic
       
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