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       # taz.de -- Performance mit und ohne Brille: Theater des Verschwindens
       
       > In "We disappear" lässt Alexander Giesche als Artist in Residence des
       > Bremer Theaters einen Dramaturgen hilflos blinken
       
   IMG Bild: Noch ist Tarun Kade zu erkennen.
       
       BREMEN taz | Vielleicht wäre es prinzipiell sogar möglich, Alexander
       Maximilian Giesches Performance „We disappear“ als Dramatisierung des
       zehnten Kapitels von Michel Foucaults „Ordnung der Dinge“ zu sehen.
       Uraufführung war im Herbst in [1][München]. Jetzt hatte die Arbeit des
       Artist in Residence am Theater Bremen Premiere. Und darin bringt er zum
       Beispiel, ganz am Ende, den Dramaturgen Tarun Kade zum Verschwinden.
       
       Der hat sich zuvor als eine Art 3-D-Version des vitruvianischen Menschen in
       eine durchsichtige Aufblaskugel gezwängt hat: Er bleibt zwar an Ort und
       Stelle, verschwindet aber doch, indem sich nämlich die Kugel allmählich mit
       Bühnennebel füllt. Zum Schluss ist sie milchglasweiß. Und an Kade erinnert
       nur das hilflose Blinken seiner LED-Stirnlampe durch das Meer von Qualm,
       das sein Gesicht verschluckt hat.
       
       ## Ohrstöpsel und Sonnenbrillen
       
       Aber ein so präziser Sinn, eine so eindeutige Referenz würde die Poesie des
       Abends [2][tilgen], die sich auch aus ihrer Vagheit speist, aus der
       Vielfalt ihrer Assoziationen.
       
       Durch eine einzige Theorie auf die Bühne zu schauen, wäre insofern ungefähr
       so schlau, wie im Theater die Sonnenbrille aufzubehalten, die es am Eingang
       gratis nebst Ohrstöpseln gibt: Auf Dauer ginge etwas verloren, etwas von
       der Farbigkeit der Bilder, vom Licht der Visionen.
       
       Sie entstehen im Erproben eines gestisch-szenischen Vokabulars, wenn das
       Ding seinen Zeugcharakter verliert, indem es sich
       [3][reko.heid.1935/sdef:TEI/get:ins Werk setzt]. Oder, mal weniger
       hochtönend: Indem ein Tischtennisball zum Requisit wird.
       
       Ein ganzer Schwung von denen, tausende, fallen auf Knopfdruck, zu Boden,
       verteilen sich. Ein Gebläse wird angeworfen, ein anderes ihm schräg
       gegenüber, auch: mal sehen, was passiert. Wer die innere Ruhe der
       Produktion teilt kann von diesem staunenden Zuschauen groß Glück erfahren.
       
       ## Keine große Schauspielkunst
       
       Wer hingegen mit dem Wunsch, große Schauspielkunst zu erleben, ins Theater
       gegangen ist, den wird „We disappear“ schrecklich enttäuschen. Denn
       Derartiges versagt sich das vierköpfige Performer-Team, dem noch
       Bühnenbildnerin Nadja Fistarol und DJ Mirko Hecktor, angehören: Der
       wenigstens kann, aus einem früheren Leben als Balletttänzer, größere
       On-stage-Erfahrungen einbringen.
       
       Aber auf die kommt es nicht an. Stattdessen thematisiert die Produktion –
       und zwar bereits mit der Ausgabe von Augen- und Ohrenschutz – die Art,
       Bühnengeschehen wahrzunehmen. Sie spielt damit, spielt mit genau den
       Erwartungen, die sie enttäuscht, indem scheinbar schrecklich wenig
       passiert.
       
       Geradezu sinnbildlich dafür wird ganz zu Anfang mit einem Kompressor ein
       sehr stabiler Ballon aus schwarzem Kautschuk aufgepumpt. Alle vier
       Performer, ausgestattet wie eine Seilschaft im Hochgebirge, sitzen am
       Bühnenrand davor und verstoppeln sich die Ohren.
       
       ## Warten auf den großen Knall
       
       Das Publikum aber tut es ihnen nach, wie auf einen stummen Befehl hin:
       reine Mimesis, Nachahmung, die ja keine unwesentliche Rolle gespielt hat
       bei der Entstehung von dem, was wir Theater nennen. Sie wird hier als
       strategische Maßnahme kenntlich.
       
       Deren Zweck ist es, die Außenwelt zu beherrschen, die Dinge und ihre
       Gefahren, als Versuch, die Welt auf Distanz zu halten. Oder aber sich aus
       ihr ausschließt, sich abkapselt. Dann wird der Kompressor abgestellt und
       dem Ballon entweicht die Luft und ordentlich legt Hecktor die schlaffe
       Hülle zusammen. Schließlich ist es die Aufgabe des Menschen, Ordnung in die
       Dinge zu bringen.
       
       3 Feb 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.spielart.org/?n=257&dId=368
   DIR [2] http://www.etudes-litteraires.com/mallarme-poesie.php
   DIR [3] http://gams.uni-graz.at/archive/get/o
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
   DIR Performance
       
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