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       # taz.de -- Neue Storys von George Saunders: Den Missgeburten gehört die Zukunft
       
       > Präzise, vorausschauend, hart: George Saunders' Kurzgeschichten in
       > „Zehnter Dezember“ machen Science-Fiction wieder möglich.
       
   IMG Bild: Früher reichten den Kindern bunte Lampions im Garten. Bei Saunders müssen es lebende Wesen sein.
       
       Obliegt es einem Satiriker, die Science-Fiction zu retten und diesem
       literarischen Genre den Weg in eine Zukunft zu weisen, an die es selbst
       kaum mehr glaubt? Nach der Lektüre des neuen Kurzgeschichtenbandes „Zehnter
       Dezember“ des US-Schriftstellers George Saunders kann man die Frage getrost
       mit „ja“ beantworten.
       
       Als sich die Literatur mit der Wissenschaft messen wollte, entstand
       Science-Fiction. In ihrer besten Zeit besaß Science-Fiction eine solche
       Ausstrahlung, dass sich die Wissenschaft wiederum mit ihr messen und all
       die schönen Dinge entwickeln wollte, die es in der Literatur schon gab, in
       der Realität aber noch nicht. Ein wunderbare Dialektik zum Wohle der
       Menschheit deutete sich an.
       
       Davon ist im Jahr 2014 nichts geblieben außer negativer Dialektik. Die
       Totalüberwachung von NSA und GCHQ haben Wissenschaft und Science-Fiction in
       abstrakter und abgewandelter Form früh vorhergesehen, und doch folgt wie so
       oft bei Orakeln daraus nichts. Die Wissenschaft setzt ihre Arbeit
       anderweitig fort, die Science-Fiction suhlt sich seit Jahren in der Krise.
       Dort angekommen, aber anders als seine Kollegen, ist auch Saunders.
       
       Denn in „Zehnter Dezember“ ist die Krise das, was sie auch in der Welt
       jenseits der Literatur oft ist: eine Mischung aus Mangel an Einkommen, der
       Angst vor sozialem Abstieg, fieser Neidbeißerei gegen andere und dem
       unbedingten Willen, sich den ökonomischen Gewinnern in allen Bereichen zu
       unterwerfen. Ob seine Geschichten dabei in der Vergangenheit, Gegenwart
       oder Zukunft spielen, ist für Saunders nicht von Bedeutung. Er verweigert
       seinen Storys konsequent Jahresangaben oder andere Verankerungen in der
       Zeit und betont damit, dass die Krise zugleich zeitlos und essenziell ist.
       
       ## Der Terror des bloßen Erlebens und Tuns
       
       In der Story „Die Semplica-Girl-Tagebücher“ ist es eine
       Mittelschichtsfamilie, die an den Abgrund gerät, weil sie sich am Status
       wohlhabender Nachbarn orientiert. Ein Rubbellosgewinn sorgt kurzfristig für
       Geld, langfristig droht das finanzielle Desaster, nachdem ein Kind einen
       Fehler gemacht hat. Auf gerade mal 32 Seiten entfaltet sich eine
       Gesellschaft, in der die Armut großer Teile der Weltbevölkerung auf die
       Wünsche von Kindern trifft, bei teuren Technologietrends mitmachen zu
       wollen. Statt die anstrengende Konfrontation mit dem eigenen Nachwuchs zu
       suchen, fliehen die Eltern in die Ideologie ihrer Ära: positiv zu denken um
       jeden Preis.
       
       Diese Story könnte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts spielen,
       eine nur leicht fiktionalisierte Variante der Gegenwart sein oder das
       Durchschnittsfamilienszenario im Jahr 2030 kennzeichnen. Gleiches gilt für
       die Story „Zuhause“, nur steht hier die Unterschicht im Zentrum. Die
       Räumung eines Hauses wegen nicht bezahlter Miete steht an, und es offenbart
       sich die Härte einer Gesellschaft, die nicht mal mehr mit dem konservativen
       Standardlamento über mangelnde freundschaftliche und familiäre Bindungen zu
       fassen ist.
       
       Was bleibt, sind Phrasen, die Weigerung aller Beteiligten, über irgendetwas
       nachzudenken und der Terror des bloßen Erlebens und Tuns. Das Höchstmaß an
       Intellektualität erreicht der Ich-Erzähler, ein heimgekehrter Soldat, am
       Ende der Kurzgeschichte: „Findet einen Weg, mich zurückzubringen, ihr
       Wichser, oder es wird euch leidtun, ihr Missgeburten, so leid, das hat die
       Welt noch nicht gesehen.“
       
       Es ist bezeichnend, dass Saunders in den USA als Satiriker gilt. Seine Art,
       literarische Figuren als Subjekte ohne jegliches Bewusstsein ihrer selbst
       in Umgebungen der Unterhaltungsindustrie einzupassen, muss dann nicht
       ernstgenommen werden; ist ja Satire. Doch auch der geneigte Europäer, der
       gerne auf die USA zeigt, um von materieller wie intellektueller Armut in
       Europa nicht reden zu müssen, erschrickt: Saunders' Storys könnten überall
       in der westlichen Welt spielen.
       
       Saunders setzt mit „Zehnter Dezember“ unbeirrt den Weg fort, den er in den
       späten neunziger und frühen nuller Jahren mit „BürgerKriegsLand fast am
       Ende“ und „Pastoralien“ begonnen hat. Von seinen literarischen Mitteln –
       Präzision, Härte und kosmopolitischer Fantasie – können die wenigen
       verbliebenen Science-Fiction-Autoren nur lernen. Auch oder gerade weil
       George Saunders keiner von ihnen ist.
       
       25 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maik Söhler
       
       ## TAGS
       
   DIR Science-Fiction
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