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       # taz.de -- Gedenken an Holocaust und Leningrad: „Leichen, leicht wie Holz“
       
       > Die Rede des russischen Schriftstellers Daniil Granin ist kein Feuerwerk,
       > sie hat nichts Glänzendes, eher etwas Bescheidenes: eine Schilderung, wie
       > es war.
       
   IMG Bild: „Ich konnte die Blockade Deutschland lange nicht verzeihen“, sagt der Literat und Rotarmist Daniil Granin.
       
       BERLIN taz | Daniil Granin geht mit einem Stock zum Rednerpult im
       Bundestag. Er hat wuscheliges, weißes Haar, wache Augen. Im Jahr 1941 war
       er Soldat in Leningrad. Er hatte sich freiwillig zur Roten Armee gemeldet,
       aus naivem, jugendlichem Überschwang, und erlebte die 872 Tage währende
       terroristische Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht.
       
       Granin hat Ende der 70er Jahre eine Blockadedokumentation recherchiert,
       eine Oral History des Schreckens. Er hat Erinnerungen von Überlebenden
       notiert, Tagebücher durchforstet. Das Bild dieser Dokumentation passte
       nicht in das Klischee vom heroischen Kampf und erschien in der Sowjetunion
       nur zensiert.
       
       Seine Rede im Bundestag hat etwas Dokumentarisches. Sie ist kein
       intellektuelles Feuerwerk, sie hat nichts Glänzendes, eher etwas
       Bescheidenes: eine Schilderung, wie es war. Granin beschreibt, wie eine
       Stadt ohne Strom, Wasser, Heizung, fast ohne Essen und unter Bomben und
       Artilleriefeuer der Deutschen zu überleben versuchte. Um nicht zu
       verdursten, holten manche Schnee, den sie im Eisenofen schmolzen und dafür
       Parkettboden verfeuerten.
       
       In den Straßen lagen Leichenberge von Verhungerten. Die Überlebenden hatten
       keine Kraft mehr, Gräber auszuheben. Soldaten schafften manchmal die
       Leichen mit Lastwagen weg. „Die Leichen“, sagt Daniil Granin, „waren ganz
       leicht, wie Holz.“
       
       Granin ist 95 Jahre alt. Als er geboren wurde, versuchte Lenin gerade
       verzweifelt, die Herrschaft der Bolschewisten zu retten. In weiten Teilen
       Russlands herrschten 1919 die Weißgardisten. Granin hat Aufstieg, Schrecken
       und Ende des Realsozialismus erlebt. Als er 12 Jahre alt war, wurde sein
       Vater deportiert – nicht weil dieser Stalin kritisiert hatte, sondern weil
       er ein Fachmann war. Anfang der 1930er Jahre standen eben Fachleute auf den
       Deportationslisten. Granins Vita in der Sowjetunion war kurvenreich. Er war
       als Literat Protagonist der kurzen Tauwetterperiode, als in den 50ern die
       Hoffnung auf eine Öffnung des Systems keimte. Später wurde er Präsident des
       sowjetischen Schriftstellerverbands: ein systemtreuer Oppositioneller, wie
       manche.
       
       ## Der letzte Repräsentant der Intelligenzija
       
       Als mit Gorbatschow das zweite Tauwetter heranbrach, ließ sich der
       Schriftsteller in den obersten Sowjet wählen, später war er Berater
       Jelzins. Aber Granin ist kein Politiker. Er ist vielleicht der letzte
       Repräsentant der Intelligenzija, jenes zwischen Dissidenz und
       Staatsdichtertum oszillierenden Milieus, das 1989 unterging.
       
       Sein Auftritt in Berlin ist ein besonderer Moment. „Ich konnte die Blockade
       Deutschland lange nicht verzeihen“, sagt der Literat. Daniil Granin ist
       wahrscheinlich der erste frühere russische Rotarmist, der im Bundestag
       redet. Die Erinnerung an den Plan der Nazis, Millionen Zivilisten im Osten
       verhungern zu lassen, um Raum für deutsche Siedler zu schaffen, ist in der
       hiesigen Erinnerungskultur randständig geblieben. In Deutschland hat man
       sich für von der Wehrmacht verübte Verbrechen wie die Blockade Leningrads
       oder den Hungermord an mehr als zwei Millionen sowjetischen
       Kriegsgefangenen nie sonderlich interessiert.
       
       Es gibt einige historische Untersuchungen, einen 20 Jahre alten
       Dokumentarfilm, eine Initiative müht sich um ein Mahnmal in
       Berlin-Tiergarten. Teil des kollektiven Gedächtnisses der Bundesrepublik
       Deutschland ist die Blockade nie geworden. Rotarmisten und russische
       Zivilisten eignen sich offenbar nicht so gut als Opfer, mit denen man sich
       nachträglich identifizieren kann. Der Blick auf die Katastrophe war auch
       durch den Kalten Krieg verstellt.
       
       Die Wehrmacht wollte Leningrad samt allen Bewohnern von der Landkarte
       streichen. Viele, erinnert sich Granin, seien damals auf den Straßen
       einfach umgefallen, verhungert oder erfroren. Manchmal reichte ein Schluck
       warmes Wasser, um sie zu retten. Und das Erstaunliche war, dass es auch in
       dieser Hölle einige gab, die anderen halfen und anderen warmes Wasser, ein
       Schatz damals, gaben.
       
       Diese Geste des Mitgefühls ist der Kern, Zielpunkt von Granins
       skizzenhafter Erinnerung an das, was vor 70 Jahren geschah. Überlebt haben
       vor allem die, die andere gerettet haben, sagt er. Dies ist so etwas wie
       der materielle Kern von Granins Konzept der Barmherzigkeit. In seinem
       biografischen Essay „Das Jahrhundert der Angst“ steht es so: „Wir
       entdeckten ein erstaunliches Gesetz der Blockadestadt: Es überlebte, wer
       anderen half zu überleben.“
       
       27 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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