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       # taz.de -- Post-Internet-Art-Ausstellung in Kassel: Frisch gebackene Yogamatten
       
       > Futuristisch und postutopisch: Im Fridericianum beschäftigt sich eine
       > neue Künstlergeneration mit der Internet-Basis der Gegenwartskultur.
       
   IMG Bild: Als Besucher wandert man um sie herum wie zwischen den Layout-Ebenen einer Photoshop-Datei: Impressionen aus dem Fridericianum.
       
       Es war ein bemerkenswerter Artikel, der unter der Überschrift „2011: Art
       and Transmission“ im Sommer 2013 [1][im einflussreichen US-Kunstmagazin
       Artforum erschien]. Der New Yorker Kunstkritiker Michael Sanchez hatte sich
       darüber Gedanken gemacht, welche Auswirkungen der technologische Wandel der
       Kommunikationsmedien auf die zeitgenössische Kunstproduktion und
       -distribution haben könnte.
       
       Zunächst unbemerkt, so Sanchez, habe es am Beginn der gegenwärtigen Dekade
       eine Art iPhone-Moment gegeben: Ein Punkt, an dem Hardware und Software so
       zusammenkamen, dass in der Folge eine „qualitativ verschiedene Art des
       Bildes“ entstanden sei. Denn die Verbreitung von Smartphones und Tablets
       machte es plötzlich möglich (und gewöhnlich), hochauflösende Bilder im Netz
       „fast jederzeit und überall“ zu betrachten.
       
       Seither hat die Kunstwelt – Sanchez zufolge – eine neue, extrem schnelle
       Taktung: Oft tauchen Ausstellungsansichten schon vor oder knapp nach der
       Ausstellungseröffnung auf den Smartphones und Tablets von Galeristen,
       Kuratoren, Kritikern und Sammlern auf; in rasendem Tempo verbreiten sie
       sich über weitergeleitete E-Mails, soziale Netzwerke, Blogs und
       spezialisierte Aggregatorwebseiten wie [2][„Contemporary Art Daily“].
       Kunst, so das Fazit, wird heute am Telefon entdeckt – nicht mehr auf
       Messen, Biennalen oder gar in den altmodischen Kunstmagazinen.
       
       ## Optimierung fürs Tablet
       
       Sanchez ging aber noch einen Schritt weiter, indem er die These vertrat,
       dass Webseiten wie Contemporary Art Daily mittlerweile so einflussreich
       seien, dass bestimmte Galerien sich darauf spezialisieren, ihre
       Ausstellungen hauptsächlich über solche Plattformen im Netz zu „vertreiben“
       und ihre Architektur und Lichtführung dementsprechend optimieren: Was also
       in erster Linie zählt, ist das Netz, nicht der tatsächliche
       Ausstellungsraum. (Was wiederum wunderbar zur These eines anderen New
       Yorker Kritikers passt, nämlich Jerry Saltz, der vom „Tod der
       Galerieausstellung“ spricht).
       
       Doch es sind wohl nicht nur die neuen Formen der Distribution, die im
       Moment für Diskussionen in der Kunstwelt sorgen. Gut möglich, dass sich mit
       der gegenwärtigen Umstellung von analog auf digital auch eine Art neues
       ästhetisches Paradigma herausschält. Niemand weiß etwas Genaues, aber für
       das nächste große Ding kursieren schon schöne Buzzwörter: „Post Internet
       Art“, „New Aesthetic“, „Circulationism“ oder „Meme Art“.
       
       In Deutschland war es eine junge Kuratorin, die als Erste diese diffuse
       Neo-Tech-Ästhetik, die nun schon seit einiger Zeit durch die Tumblr-Blogs
       und Hipster-Galerien flimmert, in ein größeres Museum zu holen. Susanne
       Pfeffer, ehemalige Direktorin der Berliner Kunst-Werke und seit dem
       vergangenen Jahr die neue künstlerische Leiterin des Fridericianums in
       Kassel, richtete unter dem Titel „Speculations on Anonymous Materials“ ihr
       Kassel-Debüt ein und landete gleich einen Coup, der den Rest der deutschen
       Ausstellungshäuser plötzlich sehr alt aussehen lässt. Gerade ist die
       Ausstellung bis Ende Februar verlängert worden.
       
       ## Merve-Bändchen mit Hashtags
       
       Für die intellektuelle Durchschlagskraft sorgen auch Resonanzen mit den
       Hipster-Philosophen des Akzelerationismus, welche die Umschläge ihrer
       Merve-Bändchen (genau wie Pfeffer das Foyer des Fridericianums) mit
       Hashtags verzieren. Eine solche Engführung von Pop, Kunst und Theorie gab
       es hierzulande wohl seit den Achtzigern nicht mehr: Damals erschien das von
       Wolfgang Müller herausgegebene Szene-Manifest „Geniale Dilletanten“ im
       kleinen Berliner Theorieverlag.
       
       Was ist nun im Fridericianum zu sehen? In erster Linie die Werke einer
       jungen Künstlergeneration, die sich nicht mehr an den Traditionen der
       Moderne abarbeitet. Lieber beschäftigen sich die knapp zwei Dutzend
       eingeladenen, zumeist nach 1980 geborenen und hauptsächlich in Berlin und
       New York lebenden Künstler mit der Undurchschaubarkeit, Giftigkeit und
       Technoidität zeitgenössischer Industriematerialien oder der
       Internet-Basiertheit der Gegenwartskultur.
       
       Die Kunst ist pragmatisch-banal, futuristisch und postutopisch zugleich.
       Dabei wird zum Beispiel nicht kulturkritisch oder gar kulturpessimistisch
       auf die Vernetztheit und die damit einhergehenden Widersprüche des Alltags
       geschaut, sondern mit affektivem Sentiment operiert.
       
       Am deutlichsten zeigen dies vielleicht verschiedene Videoarbeiten in der
       Ausstellung: So beschäftigt sich die 1981 in Novi Sad geborene und in
       Berlin lebende Künstlerin Aleksandra Domanović in ihrem knapp
       halbstündigen, dokumentarisch angelegten Video „From Yu to Me“ (2013) mit
       der verschlungenen Geschichte der jugoslawischen Domain .yu, deren
       Einrichtung Ende der Achtziger maßgeblich von den beiden
       Wissenschaftlerinnen und Internetpionierinnen Borka Jerman Blaźić und
       Mirjana Tasić vorangetrieben wurde.
       
       ## Videocollage aus Second-Life-Animationen
       
       Der in Montreal lebende Künstler Jon Rafman (geboren 1981 in Quebec)
       hingegen erzählt mit „Codes of Honor“ (2011) – einer Videocollage aus
       Second-Life-Animationen, historischen Filmaufnahmen aus einer
       Videospielhalle im New York der Siebziger – die fiktive Autobiografie eines
       Daddlers, für den Arcade-Videospiele zum zentralen Moment der Erinnerung an
       seine Kindheit geronnen sind.
       
       Als eine Art Fußnote lässt sich eine jüngere Arbeit („Still Life
       (Betamale)“, 2013) Rafmans lesen, die sich etwas versteckt in einem
       schmalen Durchgang befindet: Vermutlich aus Fundstücken auf dem stark
       frequentierten, unmoderierten Imageboard [3][4chan] montierte Rafman aus
       Hentai-Bildern (pornografische Manga und Anime-Zeichnungen),
       Pelzfetisch-Fotos („Furrys“) und Meme-Bildern von dreckverkrusteten
       Computertastaturen einen verstörenden Clip über das „Fernleben“ im Netz, in
       dem man sich auch verlieren kann.
       
       Jenseits der Projektionen herrscht ein eigenwilliger Skulpturenbegriff vor:
       Die in New York lebende Künstlerin Alisa Baremboym etwa schlingt graue
       USB-Kabel wie Schleifen über ihre transparent-undurchschaubaren
       Techno-Fetisch-Skulpturen, die aus bedruckter Seide, Schnallen, Hautgel,
       Keramik und Latexrohren bestehen. Pamela Rosenkranz, ebenfalls aus New
       York, malt mit hautfarbenem Acryl auf Elastan-Rechtecke, ihr Kollege Josh
       Kline polstert gleich eine ganze Wand mit sogenanntem Nano-Puff-Gewebe des
       kalifornischen Outdoorbekleidungsherstellers Patagonia.
       
       ## Riesenhafte Cut-outs
       
       Die flachen, überlebensgroßen Fotoskulpturen von Katja Novitskova (geboren
       1984 in Talinn) wirken in fotografierten Ausstellungsansichten imposanter
       als in der Schau selbst (was Sanchez’ eingangs zitierte Thesen stützen
       würde). Novitskova findet ihre Bilder – wie etwa eine hochaufgelöste
       Fotografie eines Chamäleons – im Netz und stellt sie, auf Aluminium
       aufgezogen, als riesenhafte Cut-outs in den Raum. Als Besucher wandert man
       um sie herum wie zwischen den Layout-Ebenen einer Photoshop-Datei.
       
       Eigenwillig erscheint auch die Serie „Axe-Effect“ (2013) von Timur Si-Qin.
       Seit zwei, drei Jahren spießt der 1984 in Berlin geborene Künstler
       Duschgelflaschen auf Samurai-Schwerter und lässt das Gel am Boden des
       Ausstellungsraums zu psychedelischen Mustern zerfließen, die ihren
       eigentümlichen Geruch verbreiten. Was ist da los? Schmiegt sich
       „Axe-Effect“ der Produktästhetik der chemischen Industrie an, oder
       kritisiert sie sie? Vielleicht beides. Vielleicht weder noch.
       
       Dieser widersprüchliche Humor gilt auch für die Si-Qin-Werkgruppe mit
       Yogamatten. Die schiebt der Künstler auf großen Aluminiumplatten wie auf
       Backblechen in den Ofen und wartet, bis sich das synthetische Material zu
       einer Art zähem Aufstrich verflüssigt. Nach „Melted Yoga Mat“ (2013) sieht
       man die wachsende Wellnessgemeinde etwas anders: Die Reise zum Einklang mit
       sich selbst ist leider oft mit giftigen und nicht abbaubaren Materialien
       gepolstert.
       
       29 Jan 2014
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://joshuaabelow.blogspot.de/2013/07/excerpt-from-2011-art-and-transmission.html
   DIR [2] http://www.contemporaryartdaily.com/
   DIR [3] http://www.4chan.org/
       
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