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       # taz.de -- 20 Jahre Berlusconi: Faschismus mit anderen Mitteln
       
       > Berlusconi wurde in Europa lange unterschätzt und hat viel erreicht. Auch
       > wenn er irgendwann der Politik den Rücken kehrt, wird Italien
       > berlusconisiert bleiben.
       
   IMG Bild: Totgesagte leben länger.
       
       Vor 20 Jahren, am 25. Januar 1994, war es soweit. Silvio Berlusconi – nein,
       er betrat nicht die politische Bühne: Er lief auf, er trat auf den Platz,
       er eröffnete die Partie. Metaphern aus der Fußballersprache begleiten
       seitdem sein gesamtes politisches Wirken.
       
       Leider können wir hier und heute keine abschließende Bilanz dieser Karriere
       ziehen. Denn Berlusconis Rolle als Protagonist des öffentlichen Lebens in
       Italien ist noch nicht vorbei – und das, obwohl er im vergangenen August in
       letzter Instanz wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt wurde.
       Im April wird das Gericht entscheiden müssen, ob er seine Strafe zu Hause
       absitzen darf oder Sozialstunden ableisten muss. Dass er in seinem Leben
       ein Gefängnis von innen sieht, schließt die Justiz aus – warum, weiß
       niemand so genau.
       
       Politisch schien Berlusconi noch vor einer Woche erledigt zu sein und somit
       der bestmögliche Zeitpunkt gekommen, um sein 20-jähriges Wirken, sein
       „Ventennio“ (von ital. „venti“ = 20), auf zukünftige Auswirkungen hin zu
       analysieren. Denn sicher ist, dass Italien auch ohne Berlusconi ein
       weitgehend berlusconisiertes Land bleiben wird.
       
       Dann aber kam [1][Matteo Renzi, Bürgermeister von Florenz] und neuer Chef
       der Demokratischen Partei (Partito Democratico, PD) und ließ Berlusconi von
       den Toten auferstehen. Renzi lud den „Kriminellen aus Arcore“, wie man in
       Italien sagt, zu einem tête-à-tête in die ehrwürdige Zentrale des PD, um
       mit ihm unter vier Augen die anstehende Wahlrechtsreform auszuhandeln.
       
       ## Von wegen Clown!
       
       Eines hatte die zwanzigjährige Hegemonie Berlusconis allerdings schon von
       Beginn an gezeigt: Er ist ein ernstes, ein in grauenhafter Weise
       ernstzunehmendes, ein tragisches Phänomen. In Europa hat man Berlusconi
       viel zu lange als komische Figur, als Clown und jedenfalls als eine
       vorrübergehende Erscheinung gesehen. Es war die Partei Angela Merkels, die
       es dann entscheidend übernahm, ihm und seiner Partei Forza Italia die
       notwendige internationale Legitimation zu verschaffen ('seiner‘ Partei
       durchaus im Sinne von Privatbesitz), indem die CDU die Aufnahme in die
       Europäische Volkspartei unterstützte.
       
       Tragisch an der Sache ist, dass Berlusconi die Transformation der
       Demokratie markiert, von einer schon länger etablierten Parteienherrschaft
       hin zu einer legalisierten Oligarchie. Dabei bilden der Strauß von Gesetzen
       ad personam, mit denen Berlusconi mehr als einem Dutzend anstehender
       Verurteilungen entgehen konnte, nur die schmutzige Spitze des Eisbergs.
       Berlusconis Herrschaft war immer janusköpfig. Es ging um die Abschaffung
       bürgerlicher Freiheiten und gleichzeitig um die Feier des ökonomischen
       Liberalismus und eines allen Regeln ledigen Unternehmertums.
       
       Der Berlusconismus will die italienische Verfassung zerstören, die, was die
       sozialen und die Freiheitsrechte der Bürger angeht, außerordentlich
       fortschrittlich ist. Der Berlusconismus möchte Justiz und mediale
       Berichterstattung seiner Herrschaft unterwerfen. Gegen all jene Richter und
       Staatsanwälte, die in den vergangenen 20 Jahren ihre Pflicht getan haben,
       im Kampf gegen die Mafia, gegen die politische Korruption und die illegalen
       Praktiken der Manager und Banker, lässt Berlusconi seine TV-Sender hetzen –
       und zwar insbesondere dann und besonders heftig, wenn die Ermittlungen die
       immer deutlicher zu Tage tretenden Querverbindungen zwischen diesen Formen
       der Kriminalität aufzudecken drohen.
       
       ## Staatsanwälte als Terroristen
       
       „Schlimmer als Terroristen“, „Fälle für die Psychiatrie“ – so bezeichnet
       Berlusconi Angehörige der Dritten Gewalt im Staat, mit Namen und Vornamen.
       Gleichzeitig werden Vergehen aus dem Bereich der White-Collar-Kriminalität
       wie die Bilanzfälschung verharmlost und praktisch straffrei gestellt –
       etwas, was nicht mal dem reaktionären US-Präsidenten George W. Bush in den
       Sinn kam, während dessen Präsidentschaft einige Manager zu hohen
       Haftstrafen verurteilt wurden.
       
       Änderungen in der Strafprozessordnung führen dazu, dass Anklagen schneller
       verjähren sowie prominente Kriminelle sich leichter aus der Schlinge ziehen
       können. Auf Dauer soll die Staatsanwaltschaft ganz dem Willen der Exekutive
       unterworfen werden – dass es hier bislang beim Versuch geblieben ist,
       verdankt sich lediglich der enormen Mobilisierung der Zivilgesellschaft,
       die sich den Staatsanwälten an die Seite gestellt hat.
       
       ## Wie in Putins Russland
       
       Die sogenannte „Normalisierung“ des italienischen Journalismus ist hingegen
       fast vollbracht. Neun von zehn Italienern lesen keine Zeitung, sondern
       beziehen ihre Informationen ausschließlich über das Fernsehen. Dank des
       Berlusconismus – und der ihm entsprechenden Beflissenheit des PD, der mit
       Berlusconi oft Hand in Hand ging – sind die italienischen
       Hauptnachrichtensendungen von einer Unterwürfigkeit, wie man sie nur aus
       Putins Russland kennt. Kritische Stimmen sind marginalisiert, statt sich
       fortzuentwicklen ist das gesellschaftliche Klima von einem
       wiedererstandenen bigotten Klerikalismus geprägt.
       
       Italien ist ein zurückgebliebenes und kraftloses Land, was bis auf die
       „roten“ Metallarbeiter von der FIOM, die noch gegen Fiat-Chef Marchionne
       kämpfen, auch alle Gewerkschaften betrifft. Die zu keiner Zeit ernsthaft
       bekämpfte Steuerhinterziehung ist von Berlusconi sogar noch moralisch
       gerechtfertigt worden. Die Reichen sind in den vergangenen 20 Jahren
       reicher, die Armen ärmer geworden – und die Mittelschicht starrt
       verängstigt auf den sinkenden Lebensstandard.
       
       Zusammengefasst: Der Berlusconismus ist die Fortsetzung des Faschismus mit
       anderen Mitteln. Die Mittel sind nicht nicht mehr Knüppel und Rizinusöl
       (das die Anhänger des faschistischen Diktators Benito Mussolini
       insbesondere zu Beginn seiner ebenfalls zwanzig Jahre dauernden Herrschaft
       ihren Gegnern gewaltsam einzuflößen pflegten, um sie zu erniedrigen),
       sondern mediale Manipulation, Zerstörung der demokratischen Antikörper in
       Justiz, Medien und Gewerkschaften. Das Ergebnis ist ein Land in Trümmern,
       real, kulturell und moralisch.
       
       Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
       
       27 Jan 2014
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Paolo Flores D'Arcais
       
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