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       # taz.de -- Olympische Ideologie: Frömmelnde Muskelprotze
       
       > Die Olympia-Welt hebt sich auf den Sockel moralischer Überlegenheit. Weil
       > ihre Leitmotive überholt und verlogen sind, feiert die Heuchelei
       > fröhliche Urständ.
       
   IMG Bild: Maskottchen der Olympischen Winterspiele in Sotschi
       
       Olympismus, so nennt sich der ideologische Überbau des modernen
       Leistungssports. Das Internationale Olympische Komitee, so etwas wie die
       Glaubenskongregation des internationalen Eventsports, hat die Lehrsätze zum
       Olympismus einst formuliert. Olympismus sei, heißt es in diesem
       Katechismus, „eine Lebensphilosophie, die in ausgewogener Ganzheit die
       Eigenschaften von Körper, Wille und Geist miteinander vereint und
       überhöht“. Es gehe um Freude an der Leistung, den erzieherischen Wert des
       guten Beispiels und die Achtung ethischer Prinzipien.
       
       Für Diskriminierung ist kein Platz, vielmehr habe sich der Sportler, der
       gute Gläubige in dieser weltumspannenden Körperkultreligion, in
       Freundschaft, Solidarität und Fairplay zu üben. Auf dem Sockel des
       Olympismus steht also ein frömmelnder Muskelprotz, der auf eine Welt ohne
       Konflikte schaut. Rasse, Religion, Politik oder Geschlecht sind nicht
       weiter von Belang in einer olympischen Gesellschaft, in der „die Athleten
       der Welt zu einem großen Fest des Sports“ zusammenkommen – Sportbewegte aus
       allen Winkeln der heilen Sportwelt.
       
       Was schon vor Jahrzehnten verquast und esoterisch klang, das ist heute zur
       reinen Utopie verkommen. Der Olympismus ist Zierrat. Wortklingelei.
       Verpackung für ein Ereignis, das jedes Maß verloren hat. Wegen der
       „nachlassenden Akzeptanz Olympischer Spiele und des internationalen
       Spitzensports in Teilen unserer Bevölkerung“ empfiehlt der Präsident des
       Deutschen Olympischen Sportbundes, Alfons Hörmann, nicht nur die Sportler
       sollten sich „dem grundlegenden Dokument mit Verfassungscharakter“
       unterordnen, sondern auch Journalisten. „Hier müssen wir alle gemeinsam
       nacharbeiten“, meint Hörmann, offenbar ein Freund des Embedded Journalism.
       
       Der moralische Anspruch des Olympismus reicht weit. Im Grunde besagt er,
       dass die Akkumulation willensstarker, geistgefüllter Körper die Welt besser
       macht, ja vielleicht sogar retten könne. Die Jugend der Welt, arglos nach
       dem Guten strebend, werde es schon irgendwie richten. Die Waffen, so die
       stete Forderung, müssten für die Zeit der Spiele natürlich ruhen.
       
       Die UN gibt wohl auch diesmal pro forma eine Resolution heraus, an die sich
       keine Kriegspartei halten will. Doch das klammert ein echter Olympist aus.
       Denn erst wenn der letzte Biathlon-Schuss verhallt ist, darf in Syrien oder
       anderswo wieder abgeballert werden. Die Spiele der Olympisten funktionieren
       wie ein Moratorium in der Politik. Dieses Stillhalten kommt aber dem sehr
       nahe, was Sigmund Freud Verdrängung nannte, einer Realitätsverweigerung,
       die hier allerdings in voller Absicht geschieht.
       
       ## Im Weihrauchnebel
       
       Weil die Oberolympisten um den deutschen IOC-Chef Thomas Bach natürlich
       wissen, dass ihre Lehrsätze und Leitmotive hohl sind, längst überholt von
       der Wirklichkeit, gerieren sie sich wie Repräsentanten der katholischen
       Kirche. Sie saufen Wein und predigen Wasser. Die Heuchelei feiert unter den
       fünf Ringen fröhliche Urständ. Man erzeugt einen gehörigen Weihrauchnebel,
       damit die Sportfans nicht mehr recht durchblicken und am Ende an die Mär
       des Olympismus glauben.
       
       Wenn der Laktatwert wichtiger wird als die Weltlage und das hübsche Fest
       nur dann steigen kann, wenn es 40.000 Soldaten und Polizisten,
       Internetüberwacher, zig Kontrollposten und ungezählte Taschendurchleuchter
       gibt, dann fällt das Konstrukt des Olympismus in sich zusammen. So recht
       trauen die Olympisten der Wirkmacht ihrer eigenen Ideologie ja ohnehin
       nicht. Bräuchte es sonst die Einhegung der Spiele, ihre Militarisierung
       samt der um sich greifenden Anschlagsparanoia?
       
       ## Her mit der Plakette!
       
       Der sogenannten Jugend der Welt ist es herzlich egal, wie es um die
       ausgewogene Ganzheit ihres Körpers steht, der moderne Athlet möchte eine
       Medaille bei den Olympischen Spielen gewinnen, am besten die goldene, damit
       sein Manager nach dem Event lukrative Verträge abschließen kann und der
       Sportler ausgesorgt hat. Nach getaner Arbeit am Berg oder der Rodelbahn
       schwärmt er durchaus von der großartigen Atmosphäre im Olympischen Dorf,
       denn so ganz kann er sich den Idealen des Olympismus nicht entziehen. Sie
       dienen ihm ja auch als Rechtfertigung für zum Teil reichlich absurde
       Tagesbeschäftigungen.
       
       Ist es wirklich sinnvoll und erstrebenswert, wie besessen und ohne
       Unterlass über Schneebuckel zu fahren oder auf einem Eisoval zu kreisen, um
       am Ende doch nur mit einem Kreuzbandriss dazustehen? Wer hilft in dieser
       Notlage? Der Olympismus natürlich, dein ideologischer Freund und Helfer:
       Gehe mit gutem Beispiel voran, lass dich nicht unterkriegen, sei Teil von
       etwas Besonderem! Die Ringe sind alles, opfere dich für sie!
       
       Dass dies im Fall der Olympischen Winterspiele eigentlich nur für Athleten
       der industrialisierten Nordhalbkugel gilt – geschenkt. Gibt es denn nicht
       auch diese putzigen Randfiguren aus Kenia, die auf Skiern durch die Loipe
       staksen? Sind sie nicht Beweis für die Universalität des Wintersports?
       Leben sie nicht nach dem olympischen Motto „Dabei sein ist alles“?
       
       Das IOC liebt diese Geschichten über Exoten, nur allzu gern werden sie
       weitergetragen von den Medien. Sicherlich dauert es auch nur noch ein paar
       Wochen, bis auch Uruguay, der Kongo und Samoa eine eigene Rodelbahn haben.
       Dann wird es ganz schnell vorbei sein mit der Dominanz der deutschen
       Schlittenfahrer.
       
       Und es ist auch nur eine Frage der Zeit, wann Chile, Südafrika und Tonga in
       das Geschehen auf der Short-Track-Bahn eingreifen. Auch wenn der ewige
       Medaillenspiegel der Winterspiele 17 Länder der Nordhalbkugel auf den
       vorderen Plätzen sieht, die Rangfolge wird sich bestimmt bald ändern, denn
       Angola und Argentinien holen mächtig auf. Der Olympismus wird das schon
       irgendwie hinkriegen – so wie er wieder einmal die besten Spiele ever in
       Sotschi hingekriegt haben wird. Oder etwa nicht?
       
       ## Ausklammern der Realität
       
       Das große Fest des Sports im russischen Badeparadies hat mehr als 40
       Milliarden Euro gekostet. Noch nie waren Olympische Winterspiele so teuer.
       Noch nie wurde so ungeniert Raubbau an der Natur betrieben, noch nie wurde
       so megaloman das Vorhaben der Winterspiele in die Tat umgesetzt. Irgendwie
       auch blöd gelaufen, dass es in der politikfreien Zone Olympia so
       unangenehme Störgeräusche aus dem Kreml gibt. Russlands Schwulengesetz und
       so. Pressefreiheit. Mangelndes Demokratieverständnis. Schauprozesse.
       Big-Brother-Überwachung.
       
       Auf derlei Dinge ist der Olympismus natürlich vorbereitet. Er klammert das
       Reale, die Welt da draußen einfach aus. Er schafft sich seine eigene. Dass
       diese Welt abgeschottet, von Armee und Polizei geschützt werden muss, damit
       es auch hübsch hermetisch wird, versteht sich von selbst. Den Rest
       erledigen die großen Fernsehstationen wie NBC, ARD und ZDF. Sie inszenieren
       dieses Spektakel in bunten Bildern.
       
       Nach zwei Wochen Sotschi wird das Internationale Olympische Komitee am 23.
       Februar wieder einmal sagen können: Der Olympismus ist so lebendig wie noch
       nie. Es geht eben nichts über den erzieherischen Wert des guten Beispiels.
       
       26 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Markus Völker
       
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