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       # taz.de -- Berlinale-Preisträger: Tausche Silbernen Bär gegen Leben
       
       > Es war ein Triumph, als Nazif Mujic den Silbernen Bären erhielt. Aber der
       > Preis brachte kein Glück. Mujic will ihn zurückgeben – unter einer
       > Bedingung.
       
   IMG Bild: Nazif Mujic nach seiner Rückkehr aus Berlin vor seinem Haus in Poljice mit seiner Frau Senada und seiner ältesten Tochter Sandra
       
       BERLIN taz | Sachlich, mit monotoner Stimme und erschöpftem, aber festem
       Blick stellt er sich vor. „Mein Name ist Mujic Nazif, ich bin der beste
       Schauspieler der Berlinale.“ In seinem Zimmer stehen zwei Pritschen, ein
       Babybett, Waschbecken und vier Plastikstühle um einen weißen Tisch. Es ist
       sauber, aber stickig und heiß, draußen eiskalt. Vom Fenster aus fällt der
       Blick auf den nahen Wald, in dem gut gekleidete Menschen mit ihren Hunden
       spazieren gehen. Auf dem wackligen Plastiktisch, zwischen Kaffeetassen,
       steht die Trophäe von seinem letzten Aufenthalt in Berlin, der Silberne
       Bär.
       
       Vor einem Jahr geschah das Unglaubliche. Nazif, der noch nie zuvor mit Film
       zu tun gehabt hatte, wurde zum besten Schauspieler der Berlinale 2013
       gekürt. In dem Film „Eine Episode aus dem Leben eines Metallsammlers“
       spielt er sich selbst, ein Rom, der seine Frau und seine beiden Töchter in
       Bosnien und Herzegowina mehr schlecht als recht mit dem Sammeln und
       Verkaufen von Altmetallen durchbringt.
       
       Als seine Frau Senada, im sechsten Monat schwanger, plötzlich von
       Bauchschmerzen gequält wird, leiht sich Nazif ein Auto und fährt ins
       Krankenhaus. Dort erfahren sie, dass das Kind tot ist und dringend entfernt
       werden muss. Doch sie sind arm, sie haben keine Krankenversicherung. Die
       980 bosnischen Mark, etwa 500 Euro, haben sie nicht. Man schickt sie weg.
       Senadas Schmerzen werden heftiger und Nazif glaubt, dass Senada sterben
       muss. Doch dann leiht ihnen eine Verwandte ihre Versicherungskarte. Sie
       riskieren Strafen, doch Senada wird gerettet.
       
       Es ist diese wahre Geschichte, die in Berlin so viele Leute angerührt und
       die Jury unter der Leitung des chinesischen Regisseurs Wong Kar-Wai
       überzeugt hat, den Film mit dem „Großen Preis der Jury“ auszuzeichnen. Und
       es ist die echte Verzweiflung, die Nazif Mujic den Silbernen Bären für
       seine darstellerische Leistungen als fürsorgender Vater eingebracht hat.
       
       Als die Entscheidung der Jury verkündet wird und sein Name, falsch
       ausgesprochen, ertönt, reißt Nazif Mujic die Arme in die Höhe.
       Überglücklich greift er hinter sich, bekommt die Hand seines Entdeckers,
       des Regisseurs Danis Tanovic zu fassen. Als er den Bären entgegennimmt,
       strahlt er. Die Zahnlücken, die zum Vorschein kommen, kontrastieren die
       gepflegte Umgebung, den Glamour der Schicken und Schönen. Er tritt ans
       Mikrofon und dankt – seiner Frau, seinen Kindern und Danis Tanovic, seinem
       besten Freund.
       
       Danis Tanovic, dessen Drama „No Man’s Land“ als bester fremdsprachiger Film
       2002 mit dem Oscar geehrt wurde, hatte Nazifs und Senadas Geschichte in der
       Zeitung gelesen. Er fuhr ins Dorf Poljice im Kanton Tuzla und sah, wie die
       Menschen leben. Er wollte helfen, so sagt er später auf einer
       Pressekonferenz, und sah nur eine Möglichkeit. Er wollte darüber einen Film
       drehen. Dass er auf der Berlinale ausgezeichnet werden würde, später sogar
       auf die Shortlist für den Oscar als bester fremdsprachiger Film kommen
       würde – das ahnte damals keiner.
       
       ## Der Bär hilft nicht weiter
       
       Seit zwei Monaten ist Nazif Mujic zurück in Deutschland, lebt in einem
       Flüchtlingsheim am Rand von Berlin – dem Ort, an dem er ein Star war, an
       dem er gut behandelt wurde und zu essen hatte. Jetzt weiß er nicht, was er
       tun soll, außer warten. Warten auf seine Abschiebung. Der Asylantrag, den
       er für sich und seine Familie gestellt hatte, wurde abgelehnt. Die
       Begründung: Armut ist kein ausreichender Grund für ein Aufenthaltsrecht.
       Der Silberne Bär hilft ihm nicht weiter, am 9. März muss er Deutschland
       verlassen – wenn nicht noch ein Wunder geschieht.
       
       „Ich bin 42 Jahre alt, glaub mir, es ist mir nicht leicht gefallen, mein
       Land zu verlassen. Aber in Bosnien habe ich nicht einmal genug Geld für ein
       bisschen Mehl.“ Er will seine Familie ernähren, die Frau Senada und die
       drei Kinder, die siebenjährige Sandra, die sechsjährige Schemsa und den
       kleinen Danis. Der Anderthalbjährige trägt den Namen des Mannes, der Nazif
       zu seinem Erfolg verholfen hat und den er in aller Öffentlichkeit seinen
       besten Freund nannte.
       
       Ein Jahr später sieht das alles ganz anders aus. Nazif fühlt sich als Opfer
       einer Verschwörung. Danis Tanovic habe ihn bestohlen, sagt er, Tanovic und
       die Regierung von Bosnien und Herzegowina. Wie genau sie ihn betrogen haben
       sollen? Er kann es nicht sagen. Immerhin, für den Dreh haben er und seine
       Frau eine kleine Gage erhalten, sagt Nazif. 50 Euro pro Drehtag, macht
       zusammen 500 pro Person.
       
       ## Mit Liebe und Respekt
       
       Danis Tanovic sagt der taz, der Film sei eine Mikro-Budget-Produktion
       gewesen mit einem Etat von 17.000 Euro. Die Produzentin habe einen Kredit
       aufnehmen müssen, den sie noch abzahlt. Einige aus der Crew hätten ganz auf
       Gagen verzichtet, so auch er selbst. Tanovic beteuert: Er habe Nazif immer
       mit Liebe und Respekt behandelt und wünschte, er könne mehr helfen.
       
       Ein Preisgeld für die Bären gibt es nicht, aber zum Ruhm des Regisseurs hat
       der Film einiges beigetragen. Nazif Mujic ist nichts geblieben. Nichts als
       sein kurzer Triumph auf dem roten Teppich und die zweieinhalb Kilo schwere
       Plastik, die er „Teddybär“ nennt.
       
       Seit jenem Tag begleitet der Bär Nazif Mujic überall hin. Vom
       Berlinale-Palast nach Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina.
       Von dort aus in das Dorf Poljice. Als er im schwarzen Anzug aus dem Auto
       steigt und den Arm mit dem Bären in der Hand in die Luft reckt, brandet
       Jubel auf. Ein lokales Fernsehteam ist da, al-Dschasira hat einen Reporter
       geschickt, die Leute, seine Nachbarn, Bekannte, Verwandte, skandieren
       seinen Namen. Er wird empfangen wie ein Held. Kinder haben ein Schild
       gemalt und an seinem Haus angebracht: Hier wohnt der beste Schauspieler von
       BiH – Bosnien und Herzegowina.
       
       ## Ein Leben als Schrottsammler
       
       Bosnien und Herzegowina ist arm. Besonders arm sind die etwa 10.000 Roma,
       die nach der Vertreibung während des Bosnienkriegs vor zwanzig Jahren noch
       geblieben sind. Nach Schätzungen von Amnesty International leben etwa 26
       Prozent der Roma unterhalb der Armutsgrenze, 70 Prozent sind arbeitslos.
       Ihre Siedlungen sind häufig ohne fließend Wasser und Strom, ohne
       Verkehrsanbindung und Müllabfuhr. Die erledigen Rohstoffsammler wie Nazif
       Mujic. Er sammelte Kupfer und andere Buntmetalle, die er auf dem Müll fand.
       
       In den neunziger Jahren kämpfte auch Mujic im Krieg, er verlor einen
       Bruder. Es waren schwere Zeiten, doch Nazif Mujic fand als Schrottsammler
       eine Aufgabe. Heute lassen ihn die anderen Metallsammler nicht mehr
       mitarbeiten. Wozu auch?, fragen sie. Er hat doch als bester Schauspieler
       ein Vermögen gemacht. Das Gerede schmerzt ihn – und entzieht ihm seine
       Lebensgrundlage.
       
       Der Bär ist für ihn zum Problem geworden. Nazif Mujic ist prominent. Die
       Ärzte und Krankenschwestern erkennen ihn wieder, auch sie denken, er sei
       reich, erzählt Nazif. „Ah, Sie haben den Oscar bekommen! Sie haben jetzt
       viel Geld und können zahlen, was wir haben wollen.“ So reden sie. Mujic
       bekommt Angst. Was passiert, wenn eines seiner Kinder krank wird, aber
       nicht behandelt werden kann, weil er kein Geld hat?
       
       ## Auf der Shortlist der Oscar-Verleihung
       
       Würden sich die Ärzte weigern, ein krankes Kind zu behandeln? Nazif und
       seine Frau Senada kennen diese Angst. Nicht einmal ihrem schlimmsten Feind
       würde sie das wünschen, was ihr geschehen sei, sagt Senada auf der
       Berlinale unter Tränen.
       
       Heute wirkt die 33-Jährige gesund, aber müde. Auch sie ist wütend auf
       Tanovic. „Er hat in jedem Land ein Haus oder eine Wohnung“, glaubt sie.
       „Wie ich lebe, fragt er nicht. Dabei hat er mir versprochen, dass meine
       Kinder genau so gut leben würden, wie seine.“ Wahrscheinlich ist er jetzt
       in Los Angeles, argwöhnt sie, um den Oscar für den besten fremdsprachigen
       Film entgegenzunehmen. Doch der Film, ihr Film über den Metallsammler Nazif
       und seine Familie, hat es nur auf die Shortlist für die Oscarverleihung
       2014 geschafft.
       
       ## „Wir wollen den Teddybär zurückgeben“
       
       ## 
       
       Kein Oscar für Nazif, nur der Bär, der sein Leben zum Besseren wenden
       sollte. Doch der Traum ist geplatzt. Die Leute, die ihn gefeiert haben,
       ächten ihn jetzt, mobben seine Kinder und schließen ihn von seinem
       Broterwerb aus. Nazif Mujic sieht keine Zukunft mehr in seinem alten Leben.
       Er bietet einen Tausch an: „Wir wollen den Teddybären zurückgeben, wenn wir
       dafür hierbleiben und arbeiten dürfen.“ Dass er gegen die Ablehnung des
       Asylantrags Einspruch einlegen, dass er sich einen Anwalt nehmen könnte –
       davon weiß Mujic nichts. Immerhin, jetzt haben Leute von der Berlinale
       erfahren, dass er Hilfe braucht.
       
       „Ich bin ein einfacher Mann“, wiederholt Nazif immer wieder. „Ich habe nie
       geklaut, ich will nur ein normales Leben für mich und meine Kinder. Sie
       sollen eine Ausbildung bekommen.“ Er sieht zu seinen Töchtern, die mit dem
       Bären spielen, dem einzigen Spielzeug im Raum. „Ich will nicht, dass sie
       einmal sagen, das ist unser Papa, er ist der beste Schauspieler, aber uns
       hat er nichts hinterlassen.“ Nichts, außer einer Statue in Bärengestalt.
       
       Mitarbeit: Davorka Popadic, Schleicher, Rüdiger Rossig
       
       22 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sunny Riedel
       
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