URI: 
       # taz.de -- Debatte Sterbehilfe: In Freiheit aus dem Leben gehen
       
       > Ärzte müssen verantwortungsvolle Suizidhilfe leisten dürfen. Sonst wird
       > sie der kommerziellen Branche dilettierender Nichtärzte überlassen.
       
   IMG Bild: Sie ruhen in Frieden. Die Frage ist nur, wie sie gestorben sind.
       
       Stellen wir uns vor: Einem Menschen mit aussichtsloser Krankheit oder
       Versehrtheit werden alle palliativen Versorgungsangebote zuteil: Er erfährt
       menschliche Zuwendung, optimale Pflege und medizinische Behandlung – und
       leidet dennoch.
       
       Frei verantwortlich und wiederholt äußert er deshalb den Wunsch, mit
       ärztlicher Hilfe sein Leben zu beenden. Leidensmüdigkeit ist sein Motiv,
       wie Karl Jaspers es formulierte, nicht Lebensmüdigkeit.
       
       Sind wir als Gesellschaft mitfühlend genug, uns diesen Wunsch als ein
       plausibles und legitimes Anliegen eines Menschen im Finalstadium einer
       schweren Erkrankung vorzustellen?
       
       So lautet – jenseits der sekundären Frage der Einbettung der Sterbehilfe in
       Organisationen mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht – die Kernfrage der
       Sterbehilfedebatte. Meine Antwort als ehemaliger Chefarzt der
       Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses, als Mitgründer eines Hospizes und
       einer Stiftung für Palliativmedizin lautet: Ja.
       
       Und ein Drittel der deutschen Ärzteschaft würde mir beipflichten. Nicht nur
       ist das Anliegen eines solchen Patienten nachvollziehbar; auch für einen
       Arzt kann die von ihm erbetene Hilfe zum Sterben nicht allein
       gerechtfertigt, sie kann sogar ethisch geboten sein.
       
       ## Demagogie in einer facettenreichen Debatte
       
       Ärztliche Suizidassistenz wird zwar, ebenso wie der Suizid selbst, nicht
       vom Strafrecht verfolgt, ganz im Gegensatz zur ärztlichen Berufsordnung,
       die ihn untersagt und mit einem Berufsverbot ahnden kann. Doch darf die
       Berufsordnung etwas sanktionieren, was das ihr übergeordnete Recht
       ungestraft lässt?
       
       Eine höchstrichterlich zu klärende Frage, wie auch die, ob das
       Betäubungsmittelrecht die Verordnung von Opiaten für die Suizidassistenz
       unterbinden darf und die ärztliche Garantenpflicht zur Lebenserhaltung bei
       einem frei verantwortlichen Suizid Bestand haben kann.
       
       Ein Mitglied des deutschen Ethikrates, der Mediziner Prof. Nagel,
       bezeichnet die ärztliche Beihilfe zum Suizid als „Tötung des Menschen durch
       einen Arzt“; eine Aussage, die nicht die geringste Kenntnis der Rechtslage
       erkennen lässt; von „Alten, die aus Gründen ihrer Einsamkeit getötet
       werden“, spricht Thomas Sitte, der Vorsitzende der Deutschen
       Hospizstiftung.
       
       Welcher Arzt, bitte, möchte einsame Alte umbringen? Äußerungen, die nur
       eines auszeichnet: Demagogie hineinzutragen in eine ernste und
       facettenreiche Debatte, um der Stärkung der eigenen Position willen.
       
       Denn so hoch der Wert und die Reichweite der Palliativmedizin auch zu
       veranschlagen sind und sosehr auch ich selbst mich starkmache für die
       Ausweitung ihrer Angebote gerade in unserem Land, das auf dem Feld
       palliativmedizinischer und hospizlicher Versorgung noch großen
       Nachholbedarf hat – sie hat Grenzen, wie auch von Palliativmedizinern
       selbst zugegeben wird.
       
       ## Suizidhilfe ist kein Ersatz für soziale Aufgehobenheit
       
       Palliativmedizin und ärztlich assistierter Suizid, so unbestritten die
       Vorrangstellung der Ersteren in ihrer klassischen Ausprägung umfassender
       Symptomlinderung auch ist, schließen sich gegenseitig nicht aus; sie sind
       vielmehr, formal betrachtet, miteinander komplementär. Denn auch die
       Suizidbeihilfe lässt sich vom Wohl des Patienten leiten, über das letztlich
       aber er selbst befindet.
       
       In der Tat dürfen wir niemals zulassen, dass Menschen nach Suizidbeihilfe
       verlangen, weil ihnen das, was sie mit Fug und Recht am Lebensende
       verlangen dürfen, die Linderung von Schmerzen und Angst, besonders aber
       Zuwendung und soziale Aufgehobenheit, vorenthalten wird.
       
       Indes irrt Herr Müntefering, wenn er (wie kürzlich im „ZDF-Morgenmagazin“)
       glaubt, dass Verzweiflung und Leiden eines Menschen in jedem Fall durch
       Palliativmedizin erträglich werden, ganz abgesehen davon, dass niemand
       genötigt werden kann, sie anzunehmen.
       
       Die von den Gegnern ärztlicher Suizidbeihilfe immer wieder beschworenen
       Dammbruchargumente tragen nicht: Keineswegs kommt es zu Nachahmerverhalten,
       also zu Sterbewünschen dort, wo bisher keine waren.
       
       ## Gegen eine kommerzialisierte Sterbehilfe von Dilettanten
       
       Und dort, wo ärztliche Suizidassistenz möglich ist, wie etwa im
       amerikanischen Bundesstaat Oregon, ist mitnichten das Szenario einer
       generellen Lockerung gesellschaftlicher Moralvorstellungen zu konstatieren,
       die den Weg für die hemmungslose Beseitigung gerade der Hochbetagten und
       Schwerstpflegebedürftigen, die sich gesellschaftlichem Druck ausgesetzt
       sähen, bahnen könnte. Im Gegenteil: Die Nachfrage nach ärztlicher
       Suizidassistenz ist rückläufig, und die Palliativmedizin erfuhr eine
       Aufwertung!
       
       Was die Praxis ärztlicher Suizidassistenz angeht, so darf sie keinesfalls
       der organisierten oder gar kommerzialisierten Sterbehilfe dilettierender
       Nichtärzte vom Schlage des ehemaligen Hamburger Justizsenators Roger Kusch
       oder des Schweizer Anwalts Ludwig Minelli („Dignitas“) überlassen werden,
       die nicht davor zurückschrecken, terminal Kranke in klandestinen Pensionen,
       auf Parkplätzen und mittels eigens konstruierter Selbsttötungsmaschinen
       oder heliumgefüllter Tüten zum Tode zu befördern.
       
       Ärztliche Suizidassistenz gehört vielmehr in den Intimraum von Arzt und
       Patient. Nur ein zwischen beiden gewachsenes Vertrauensverhältnis sowie die
       eingehende ärztliche Kenntnis der Kranken- und Leidensgeschichte des
       Patienten bieten die Gewähr, dass der Arzt nach bestem Wissen und Gewissen
       Hilfe zum Sterben leistet.
       
       Diese Auffassung vertrat auch der vormalige Präsident der
       Bundesärztekammer, der 2011 verstorbene Prof. Jörg Dietrich Hoppe: „Die
       Beihilfe zum Suizid ist keine ärztliche Aufgabe, doch sie sollte möglich
       sein, wenn der Arzt sie mit seinem Gewissen vereinbaren kann.“
       
       Sigmund Freud, der sich am Lebensende mit einem Mundbodenkarzinom grausam
       quälte, erbat und erhielt von seinem Arztfreund Max Schur Sterbehilfe, die
       als Tötung auf Verlangen sogar über die Beihilfe zum Suizid hinausging.
       
       Und kein Geringerer als Franz Kafka war es, der, Lunge und Kehlkopf von
       Tuberkulose zerfressen, seinen ärztlichen Freund Robert Klopstock um eine
       sein Leiden beendende Morphiumspritze bat: „Sie haben es mir immer
       versprochen. Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder.“ Und Klopstock
       erfüllte sein Versprechen.
       
       21 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael de Ridder
       
       ## TAGS
       
   DIR Sterbehilfe
   DIR Ärzte
   DIR Dignitas
   DIR Palliativmedizin
   DIR Suizid
   DIR Suizid
   DIR Sterbehilfe
   DIR Suizid
   DIR Sterbehilfe
   DIR Minderjährige
   DIR Sterbehilfe
   DIR Gesundheitspolitik
   DIR Bundesministerium für Gesundheit
   DIR Sterbehilfe
   DIR Sterbehilfe
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kommentar Anklage wegen Suizidhilfe: Politische Justiz
       
       Organisierte Suizidhilfe steht noch nicht unter Strafe. Doch Funktionäre
       vom Verein „Sterbehilfe Deutschland“ werden angeklagt. Eine Kampagne?
       
   DIR Ex-Senator wegen Sterbehilfe angeklagt: Kusch unbeeindruckt
       
       Roger Kusch will nach der Anklage der Staatsanwaltschaft seinen
       Sterbehilfe-Verein weiter betreiben: Der Vorwurf des gemeinschaftlichen
       Totschlags sei unhaltbar.
       
   DIR Sterbehilfe in Deutschland: Siebzehn Wege zu sterben
       
       Eine taz-Recherche zeigt: Ärzte, die im falschen Bundesland Sterbehilfe
       leisten, riskieren ihren Job. Pech für Patienten. Droht ein
       „Suizid-Tourismus“?
       
   DIR Belgien und die Sterbehilfe: Leiden kennt kein Alter
       
       In Belgien ist jetzt auch Sterbehilfe für Kinder erlaubt. Was macht so eine
       Haltung mit der Gesellschaft? Ein Arzt, ein Priester und ein Politiker
       erzählen.
       
   DIR Belgisches Parlament für neues Gesetz: Sterbehilfe ohne Mindestalter
       
       Als erstes Land der Welt erlaubt Belgien Sterbehilfe auch für todkranke
       Kinder. Die Abgeordneten in Brüssel stimmten mit klarer Mehrheit für eine
       Gesetzesänderung.
       
   DIR Sterbehilfe in Deutschland: Aus der Schublade gezogen
       
       Die Debatte um Sterbehilfe ist wieder entbrannt. So erhält ein alter
       Gesetzentwurf neue Brisanz, der auch ärztliche Beihilfe unter Strafe
       stellen will.
       
   DIR Debatte Suizidhilfe: Der doppelte Irrtum
       
       Ärzte sollten nicht über den Tod von Menschen entscheiden, dafür fehlt jede
       Grundlage. Eine Antwort auf den Vorschlag des Kollegen de Ridder.
       
   DIR Kommentar Sterbehilfe: Entmündigung per Gesetz
       
       Strafregelungen zur Sterbehilfe sind ein konservatives ideologisches
       Projekt. Der Gesundheitsminister hätte wichtigere Aufgaben zu erledigen.
       
   DIR Debatte um Sterbehilfe in Deutschland: Vorstoß auf vermintem Gelände
       
       CDU-Gesundheitsminister Gröhe will geschäftsmäßige Sterbehilfe bestrafen.
       Der SPD-Justizminister verweist ans Parlament.
       
   DIR Sterbehilfe in Belgien: Auch Kinder und Demenzkranke
       
       Belgien will die Sterbehilfe ausweiten. Ärzte sollen auch Minderjährige und
       Demente töten dürfen. Patientenschützer sprechen von Bankrotterklärung.