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       # taz.de -- Kapitalismuskritik nach dem Ende der Camps: Der Geist von Occupy
       
       > Im Januar wurde das letzte Occupy Camp Deutschlands in der Hamburger
       > Innenstadt geräumt. Unsere Autorin wollte wissen, was von der
       > Protestbewegung geblieben ist.
       
   IMG Bild: Occupy Campn in der Hamburger Innenstadt wird geräumt: Der Geist der Protestbewegung ist aber noch nicht ganz verschwunden
       
       Viel ist nicht mehr zu sehen. Der Platz vor der Deutschen Bank ist leer,
       nur ein Hinweisschild an einem Baum deutet an, das hier einmal mehr zu
       sehen war als Beton und Bürogebäude: das letzte Occupy Camp Deutschlands.
       Über zwei Jahre lebten und diskutierten Anhänger der Protestbewegung, die
       an der New Yorker Wall Street begann und sich 2011 auch in Deutschland
       ausbreitete, mitten in der Hamburger Innenstadt – zunächst vor der HSH
       Nordbank, später dann auf dem Gertrudenkirchhof.
       
       Rund 30 Camps gab es in Deutschland, nach und nach wurden sie alle geräumt.
       Anfang Januar wurde auch das Hamburger Camp entfernt. Da war es schon lange
       ruhig geworden um die Kapitalismuskritiker und Freidenker: Irgendwann
       gingen die Passanten nur noch vorbei, das bunte Zeltlager fügte sich
       einfach ins Stadtbild. Was ist heute geblieben von Occupy?
       
       ## Die 99 Prozent
       
       Das Motto der Occupy-Wall-Street-Bewegung, die im Herbst 2011 zwei Monate
       lang den Zuccotti Park im Finanzdistrikt der Wall Street in New York City
       besetzte, war „Wir sind die 99 Prozent“. Wenn es um diese selbst erklärten
       99 Prozent geht, die gegen das Finanzsystem und für mehr Demokratie
       demonstriert haben und noch demonstrieren, fällt jede Beschreibung schwer.
       Tine weiß das. Die Aktivistin war im Hamburger Camp von Anfang an dabei.
       „Da war immer diese große Erwartungshaltung an uns. Immer hieß es: Ihr seid
       empört, na toll, und was sind eure Antworten?“, sagt sie. „Dabei war es
       doch nie unser Ziel, Lösungen zu finden.“
       
       Die Pädagogin ist Mitte 30, wirkt freundlich und selbstbestimmt. Politisch
       aktiv sei sie vorher nie gewesen, kritisch aber schon, „vor allem bin ich
       Mensch“, sagt sie. Sie lebte im Camp, ein großer Spagat sei das gewesen,
       zwischen Arbeitswelt und Zeltdorf mit Volksküche. Heute geht sie auf
       Spurensuche, gemeinsam mit anderen Occupy-Anhängern besucht sie die alten
       Plätze, die einst „offene Räume für Kommunikation“ waren und auch ein
       bisschen ihr Zuhause. Es ist eine heterogene Gruppe: Oli ist um die 50 und
       buddhistischer Mönch, Thyra ist 20 und besucht die Abendschule und wird von
       ihrem Freund Marcel begleitet, den sie im Camp kennengelernt hat.
       
       Ist Occupy gescheitert? „Wenn man das an ein paar Zelten festmachen will,
       sicher“ sagt Oli. Aber das sei nicht der Maßstab. Immerhin sei die Kritik
       am Finanzkapitalismus heute bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.
       „Der Geist von Occupy lebt weiter, auch ohne die Camps.“ Er überlegt lange,
       bevor er spricht, wählt seine Worte mit Bedacht. Es sei nicht immer leicht
       gewesen, sagt er, vieles würden sie heute anders machen. Die täglichen
       „Asambleas“, wie Diskussionsrunden in Occupy-Kreisen genannt werden, seien
       anstrengend gewesen. Bis zu sechs Stunden habe man da geredet, sagt Tine
       und seufzt: „Wer vorher glaubte, tolerant zu sein, wurde im Camp auf die
       Probe gestellt.“
       
       Feste Themen und Strukturen entsprechen nicht dem Selbstverständnis von
       Occupy – jeder darf teilnehmen, niemand wird ausgeschlossen, alles wird
       ausdiskutiert. Einige nutzten das aus, Menschen mit rechtem Gedankengut
       diskutierten plötzlich mit, „die waren eine Herausforderung in ihrem
       Denken“, sagt Tine vorsichtig und fügt hinzu: „Das konnten wir denen ja
       nicht verbieten – nur ihre Parteifahnen durften sie nicht mitbringen.“ Eine
       lange „Findungsphase“ habe es zwischen den Aktivisten gegeben. In anderen
       Camps kam es inzwischen zu Konflikten: Im Herbst 2011 berichteten Medien
       über Verwahrlosung, Alkohol und Streitereien im Frankfurter Occupy Camp. In
       Hamburg sei das anders gewesen, sagt Oli. Probleme seien direkt
       angesprochen und gelöst worden. Und irgendwann seien diese „schwierigen
       Menschen mit negativen Motivationen“, wie er sie nennt, dann von selbst
       wieder gegangen.
       
       ## Hypnotisierte Shopper
       
       An den Aktivisten zogen Menschen mit vollen Plastiktüten vorbei, den Blick
       aufs Smartphone gerichtet. Konsumkritik umgeben von Einkaufstempeln: Tine
       wäre mit dem Camp damals lieber in die Sternschanze oder nach Altona
       gezogen, „da ist das Engagement und das politische Problembewusstsein
       größer“, sagt sie. Wieder wurde diskutiert, aber dann sind sie doch in der
       Innenstadt geblieben. Schließlich seien es gerade „diese hypnotisierten
       Shopper“, die sie mit ihrem Protest erreichen wollten, sagt Tine.
       
       Zu Beginn gab es auch hier noch viel Zuspruch – Rentner, die ihre
       Geldanlagen durch die Finanzkrise verloren hatten, brachten Kuchen vorbei,
       Angestellte der HSH Nordbank versorgten die Aktivisten mit Kaffee – „wohl
       zur Deeskalation“, sagt Oli und lacht. Doch irgendwann schauten die
       Passanten einfach nicht mehr auf die bunten Pappaufsteller mit den
       politischen Parolen.
       
       Und dann kam eine Aufgabe auf die Aktivisten zu, auf die sie so nicht
       vorbereitet waren: Immer mehr Obdachlose kamen zum Camp, baten um
       Unterkunft und Essen. Für diese Menschen war nirgends Platz in der Stadt.
       Nicht in den Notunterkünften, erst recht nicht am Hauptbahnhof, wo die
       Bahnwache patrouilliert und laute, klassische Musik in Dauerschleife
       gespielt wird. „Natürlich hätten wir Nein sagen können. Aber wenn wir Armut
       und Ausgrenzung kritisieren, können wir die doch nicht ignorieren“, sagt
       Thyra. Bald fanden sich die Aktivisten in der Rolle von Sozialarbeitern
       wieder. „Das ging schon hart an die Belastungsgrenze“, sagt Tine. Die
       inhaltliche Arbeit habe darunter gelitten, bald ging es vor allem um
       organisatorische Fragen.
       
       Auch Marcel durfte bleiben. Als er auf das Camp stieß, lebte er seit zwei
       Wochen auf der Straße. Wegen eines Familienstreits war der damals
       19-Jährige von Zuhause abgehauen. „Occupy war wie ein großes Fischernetz,
       das mich aufgefangen hat, ich war ja ganz allein“, sagt er. Früher sei er
       so fixiert auf Materielles gewesen, heute sei ihm das alles „total egal“ –
       nur das menschliche Miteinander sei doch von wirklicher Bedeutung. Es
       klingt so, als spreche er über eine Religion. Die Anderen lächeln, klopfen
       Marcel auf die Schulter. Drei Obdachlose, die im Occupy Camp schliefen,
       standen nach der Räumung des Camps wieder auf der Straße. Die Aktivisten
       baten den Bezirk um Unterstützung, das Amt schickte einen Vertreter mit
       einer Broschüre für das Winternotprogramm vorbei. Jetzt haben die
       obdachlosen Männer vorübergehend Unterschlupf gefunden – privat, bei
       einigen Occupy-Aktivisten.
       
       ## An die Spielregeln gehalten
       
       Dass der Bezirk am Ende ernst machte mit der angedrohten Räumung, hat die
       Aktivisten enttäuscht. Schließlich habe es schon viele Räumungstermine
       gegeben, am Ende hätten aber immer die mündlichen Absprachen gegolten, sagt
       Oli. „Wir haben uns doch immer an die Spielregeln gehalten.“ Sie sollten
       das Camp verkleinern, das hätten sie getan, dann hätte es neue Gespräche
       geben sollen, sagt er. Doch dann kamen am 6. Januar frühmorgens die Bagger.
       „Das war wie ein Überfall, die haben alles kurz und klein gemacht“, sagt er
       und schüttelt immer wieder den Kopf.
       
       ## Suche nach neuem Ort
       
       Tine will nicht resignieren, ist sogar erleichtert. „Ich sehe das als große
       Chance. Jetzt müssen wir uns nicht mehr um die Organisation des Camps
       kümmern und können uns wieder stärker auf unsere Inhalte fokussieren“, sagt
       sie. Welche das sind, will sie noch nicht sagen. „Das müssen wir erst
       diskutieren.“ Erst mal sei die Gruppe auf der Suche nach einem neuen
       Versammlungsort. Ein Camp müsse es nicht sein, aber ein „kreativer
       Spielraum für öffentliche Aktionen, da wo man uns sieht“, sagt sie. Denn
       interessierte Aktivisten gebe es weiterhin. Zwar nicht mehr so viele wie zu
       Beginn der Protestbewegung, aber es habe sich ein festes Netzwerk in der
       Stadt gebildet, das weiter in Kontakt steht. Vom Bezirk erwarten sie nun
       Unterstützung bei der Suche nach Räumlichkeiten und deren Finanzierung.
       
       Montag beginnen die Gespräche mit Bezirksamtsleiter Andy Grote. „Man will
       hier erst mal die Vorstellungen der AktivistInnen kennenlernen und dann
       sehen, was realistisch umgesetzt werden kann“, sagt Sorina Weiland,
       Pressesprecherin des Bezirksamtes Mitte.
       
       Es wird weitergehen, auch ohne Camp, da sind sich die Aktivisten sicher.
       „Soziale Gerechtigkeit und Kritik an den Finanzeliten sind immer noch
       brennende Themen“, sagt Oli und lächelt dabei entspannt. „Manchmal dauert
       es nur etwas länger, bis das zu den Massen durchdringt.“
       
       20 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annika Lasarzik
       
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