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       # taz.de -- Der Theatermacher René Pollesch: "Meine Texte sind Sehhilfen für die Wirklichkeit"
       
       > Ein Gespräch über Arbeit und Liebe, Freundschaft und Einsamkeit sowie
       > über die Bühne als den passenden Ort für theoretische Überlegungen.
       
   IMG Bild: René Pollesch im Gespräch.
       
       taz: Herr Pollesch, wir haben in Ihren Stücken immer den Eindruck, dass Sie
       nicht an die Liebe glauben. 
       
       René Pollesch: Die Liebe taugt im Moment vielleicht nur noch dazu, Menschen
       loszuwerden. Wir sagen dann, wir folgen der Stimme unseres Herzens, und
       verlassen jemanden für einen anderen. Wir gehen dahin, wohin der Zeiger des
       Herzens jeweils ausschlägt. Wie eine Flipperkugel. Daran glaube ich nicht.
       
       Woran dann? 
       
       Viele Philosophen beschäftigen sich im Moment mit der Dauer der Liebe.
       Dietmar Dath und Barbara Kirchner lesen in Adornos Sätzen über die Treue
       heraus, "nicht wegzurennen, wenn es kompliziert wird". Die Rede für eine
       dauerhafte Liebe kann ich sehr teilen. Aber auch dahinter vermute ich
       etwas, was ich problematisch finde.
       
       Nämlich? 
       
       Die große, wahre Liebe begegnet einem in Erzählungen und Theaterstücken.
       Zum Beispiel die Liebe, die mit dem Tod der Liebenden endet. Aber wenn von
       uns jemand vor den Trümmern seiner Beziehung steht, wird er durch seine
       Freunde natürlich zum Weiterwurschteln aufgefordert.
       
       Indem die sagen: Du kannst dich doch jetzt nicht umbringen … 
       
       Ja. Die sagen: Dein Herz ist gebrochen, ja gut - aber es kommt schon wieder
       jemand anderes. Aber wenn es um die große Liebe geht, was soll dann dieses
       Konzept von Am-Leben-Bleiben? Es gibt keine Liebe nach der Liebe.
       
       Ihnen fehlt das Absolute. 
       
       Ja. Warum kommt nach der Liebe die nächste? Keine Ahnung, aber das ist das,
       was wir leben. Und das halten wir für die Stimme unseres Herzens. Und das
       ist im Moment eben das Werkzeug der Gesellschaft, um jemanden loszuwerden.
       Aber wenn man Liebe radikal und ernst nimmt, ist sie nicht unbedingt
       anschlussfähig. Wenn ich jetzt sagen würde: Ich habe versucht, die wahre
       Liebe meines Lebens zu finden, das ist gescheitert, und jetzt ist mein
       Leben eben zu Ende. Dann sagen meine Freunde natürlich nicht, ja klar,
       René, wir verstehen das, du musst dich umbringen. Ich verstehe auch nicht,
       warum der Papst zurücktritt. Sophie Rois hat mir neulich gesimst: Nicht mal
       auf die Kirche ist Verlass! Der biopolitische Terror um uns herum sagt:
       Bleib am Leben!
       
       Ist es nicht auch ganz okay, am Leben zu bleiben? 
       
       Ja. Aber es gibt doch immer wieder Leute, die sich umbringen. Und man denkt
       dann leider nur, dass die verrückt sein müssen.
       
       Trotzdem ist die Liebe oft Gegenstand in Ihren Texten. 
       
       Weil sie im Theater dazu benutzt wird, um eine Gemeinschaft zu beschwören.
       Und weil sie ein Bereich ist, in dem wir alle miteinander zu tun haben
       sollen. Weil jeder denkt, Liebe sei anschlussfähig. Mit jedem Song, mit
       jedem Film darüber mehr. Hauptsache, das Wort "Liebe" fällt dauernd. Im
       Theater geht es um Kommunikation. Und da gibt es eben einen konsensfähigen
       Liebesbegriff, den man in die Luft wirft, um alle ins Boot zu holen. Diese
       Kommunikation ist dann aber eine, die auf einem weit weniger radikalen
       Liebesbegriff beruht. Meine Frage ist jetzt, wie kann man auf dem nicht so
       heruntergedimmten Liebesbegriff eine Kommunikation aufbauen? Also nicht auf
       den Konsens. Sondern auf die singuläre Liebe, also so, wie Heidegger an
       Hannah Arendt schrieb: Es gibt nur deine und meine Liebe. Die Frage ist im
       Theater doch immer, erreicht man die Zuschauer durch heruntergedimmte
       Meinungen, die alle teilen können? Oder mit dem, was nicht zu teilen ist.
       Die beste Lösung ist, finde ich, sich nicht auf die Zuschauerposition zu
       stürzen, sondern auf das nicht Anschlussfähige. Macht man Theater für die
       auf der Bühne oder fürs Publikum?
       
       Und, wissen Sie es? 
       
       Ich mache es für mich, und die Schauspieler machen es für sich. Da ist doch
       wenigstens sicher, dass man an niemandem vorbeizielt. Ich denke nicht: Ah,
       jetzt muss ich in Berlin ein Stück machen, dann mache ich mal eins über die
       Liebe. Sondern ich treffe auf Schauspieler, die sagen: Ich verstehe das
       auch nicht, warum man sich nicht aus Liebe umbringt. Oder: Warum scheint
       niemand mehr für die Liebe bezahlen zu wollen? Mit seinem Ruin. Mit seinem
       Leben.
       
       Kommt bei Ihrer Arbeit oft Überraschendes heraus? 
       
       Immer. Anders würde mich das gar nicht interessieren. Ich komme nicht mit
       einer Vision zu den Proben und versuche die dann durchzuziehen.
       
       Was wäre schlimm daran? 
       
       Ich bin gegen das Durchexerzieren von Ideen. Wenn ein Regisseur mit einer
       Idee kommt, kann die nur besser werden, wenn viele Leute draufgucken. Alles
       andere läuft nur auf ein Theater zu, das so tot ist, wie es nun mal das
       Durchexerzieren der Idee eines Einzelnen ist. Ich liefere eine Idee und ein
       Thema und Textmaterial. Und dann geht es darum zu schauen: Kann man die
       Texte benutzen? Dienen die zu etwas? Sind das Instrumente, um auf das
       eigene Leben zu sehen? Wenn nicht, verwirft man sie.
       
       Sie reisen viel, Sie inszenieren in Berlin, Stuttgart, Hamburg, Zürich.
       Erschwert die Pendelei die Arbeit? 
       
       Neue Leute kennenzulernen macht Spaß. Nur der Arbeitsprozess dauert dann
       manchmal länger, weil die normale Praxis dort ist, sich anzueignen, was
       Regisseur und Autor da mitbringen. Schauspieler, die mich nicht kennen,
       denken natürlich erst mal, das ist Koketterie, wenn ich sage, wenn der Text
       euch nicht interessiert, muss ich eben einen neuen schreiben. Ich finde,
       das Erste, was wegmuss, ist die Gewohnheit, sich die Themen anzueignen. Die
       Schauspieler haben ja auch ihre Themen. Es geht eben darum, sich zu
       emanzipieren von der Hand des Daddys. Für mich ist es wichtiger, das, was
       ich an Themen und Texten mitbringe, mit allen Beteiligten zu überprüfen:
       Geht das die Schauspieler an? Und wenn es uns was angeht, dann sieht man
       bei der Premiere Leuten zu, die immerhin an etwas arbeiten, was sie angeht.
       
       Aber da ist doch wieder die Flipperkugel. Sie treffen hier auf Leute und
       dort, und immer sind es andere. 
       
       Aber dabei folge ich nicht der Flipperkugel namens "Stimme meines Herzens".
       Ich folge dabei nicht meinem Inneren, als käme meine Arbeit hier raus
       (deutet auf sein Herz). 
       
       Warum kämpfen Sie so gegen das Bild des Künstlers, der etwas aus sich
       herausnimmt? 
       
       Ich kann nicht deshalb schreiben, weil das in mir steckt, sondern weil ich
       das gelernt habe. Ich habe Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen
       studiert, wo es ein anderes Paradigma gab. Und zwar: erst die Inszenierung,
       dann der Text. Das generiert bis heute mein Schreiben.
       
       Also eine erfolgreiche Ausbildung? 
       
       Ja. Denn es fing ja so an, dass alle Leute, an die ich meine Texte
       schickte, sagten: Nee, das sind keine Theatertexte. Ich habe die an Verlage
       verschickt, wie man das macht, wenn man Autor sein will, und bekam dann
       zurück: "Na ja, Sie beziehen sich da ein bisschen auf Heiner Müller und so,
       aber diese Fußstapfen sind Ihnen zu groß." Also man hofft, dass Papa einem
       sagt, dass man es gut gemacht hat, und dann das! Und dann kann man entweder
       so weitermachen, oder man fängt an, sich davon zu emanzipieren, dass die
       anderen einem sagen, was Theater ist und was Theatertexte. Und das lernte
       ich da.
       
       Hätte es einen Plan B gegeben? 
       
       Also meine Eltern, die nichts mit dem Theater zu tun haben, die waren schon
       sehr sorgenvoll. Ich konnte mit Mitte, Ende zwanzig mal als Dramaturg
       arbeiten und vier Jahre später musste ich dafür Steuern bezahlen. Geld, das
       ich nicht mehr hatte. Da mussten meine Eltern einen Kredit aufnehmen für
       mich und bürgen. Da denken Eltern schon, hätten wir uns doch durchgesetzt
       mit dem Wunsch, dass er eine Bankkaufmannslehre macht.
       
       Wer weiß, wie viel Schulden Sie dann gemacht hätten. 
       
       Ja. Bankkaufleute sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Die wollen sich
       auch selbstverwirklichen und nehmen Drogen. Vor allem die wahrscheinlich,
       und nicht die Künstler.
       
       Welcher Wert hat der Text für Sie als Künstler? 
       
       Man ist während eines Studiums aufgefordert, sich Theorien anzueignen. Aber
       das garantiert nicht, dass man versteht, dass sie auch zu irgendetwas
       anderem gut sind, als sie in Bibliotheken herumstehen zu lassen. Von meinen
       Texten möchte ich, dass man sie benutzt, dass sie einen Gebrauchswert
       haben. Das sind Sehhilfen für die Wirklichkeit. Für bestimmte Verhältnisse,
       in denen wir stecken.
       
       Ziehen Sie sich zurück zum Lesen? 
       
       Ich lese und ich schreibe dauernd. Weil es nicht aufgehört hat, mir Spaß zu
       machen.
       
       Ist das nicht eine sehr einsame Form von Arbeit? 
       
       Ich sitze ja nicht ein halbes Jahr am Schreibtisch und gehe dann auf die
       Bühne. Ich mache immer beides gleichzeitig. Ich bin auf Proben mit Leuten
       zusammen, habe Teil an etwas sehr Sozialem, was sehr wichtig ist für mich,
       und daneben geh ich eben dem Schreiben nach.
       
       Wie wichtig sind Arbeitsbeziehungen? 
       
       Meine festesten und treuesten Beziehungen sind Arbeitsbeziehungen. Es ist
       ja auch nicht zu verachten, dass man sich beim Arbeiten gern zusieht.
       
       Freundschaft ist wichtig für die Arbeit? 
       
       Ein herrschender Liebesbegriff sagt ja: Die Liebe ist das eine, die Arbeit
       ist das andere. Aber dass man sich wahrscheinlich zu Hause mehr langweilt
       als auf der Arbeit, das wird weggelassen.
       
       Das gilt vor allem für privilegierte Arbeitsplätze wie die Volksbühne. Ist
       die eine Art Zuhause für Sie? 
       
       Ja. Und es ist ein Grauen für mich, zu überlegen, was nach 2016 passiert …
       
       … wenn Frank Castorfs Intendanz zu Ende geht … 
       
       … wenn wir hier nicht mehr unsere Basis haben. Was wird das für ein
       Arbeiten, wenn man nur noch einsam auf Bahnhöfen rumhängt? Das ist
       tatsächlich der Schrecken, den ich momentan noch mit der Volksbühne kitten
       kann.
       
       Die Volksbühne hat als Haus viel Kritik erfahren in den letzten Jahren.
       Halten Sie ihr auch deshalb so sehr die Treue? 
       
       Es geht ja seit zwei Jahren schon wieder stark bergauf. Aber davor gab es
       eine Menge Bashing. Da wurden mit die besten Sachen, die wir gemacht haben,
       ignoriert.
       
       Ist weniger beachtet zu werden nicht eine Kränkung? 
       
       Es gibt Momente der Kränkung. Aber die haben für mich mit dieser
       vorinstallierten Regieposition zu tun: Der Regisseur fühlt sich gekränkt,
       wenn seine Position infrage gestellt wird - und genau das will ich ja. Wenn
       da noch Kränkungsreste sind, müssen die mich interessieren.
       
       Und wie ist das mit der Beachtung bei der Arbeit? 
       
       Ich operiere nicht mit einem Geheimwissen bei der Probe. Ich tue nicht so,
       als gäbe es in mir was, das Großes herstellt. Wenn mehrere Leute
       zusammenarbeiten, kann etwas entstehen, das über sie hinausgeht. Und wenn
       sie sich dabei gegenseitig in Ruhe lassen.
       
       Wirklich? So demokratisch? 
       
       Ich rede zum Beispiel dem Bühnenbildner nicht in seine Arbeit rein. Meine
       Aufgabe ist es, mit dem, was er gemacht hat, was anzufangen. Das
       Demokratische an uns ist, dass jeder seine Arbeit macht. Meine ist es,
       einen Text herzustellen, der eine Idee beinhaltet, die die Schauspieler
       bewegt. Dann muss ich auch niemanden mehr durch die Gegend scheuchen: "Du,
       ich habe mir das so vorgestellt, zu dieser Tür kommst du rein, machst das
       und das, und da gehst du ab." Das sind Unterweisungen, aber keine Ideen,
       die bewegen.
       
       Sie vertrauen Ihren Schauspielern. 
       
       Schauspieler wissen, was sie brauchen, um gut zu sein. Ich würde nie etwas
       von einem Schauspieler verlangen, bei dem er nicht zu dem kommt, was er
       braucht.
       
       Warum ist gerade die Bühne Ihr Ort, Theorie zu verhandeln? 
       
       Ich bin ein Theatermann. Ich bin leider kein Philosoph geworden und kein
       Soziologe. Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, in der der Künstlerberuf
       immer stärker aufgewertet wurde. In meiner Generation ging das ja los, dass
       mehr und mehr Leute kreativ sein wollten.
       
       Aber warum gerade Theater? 
       
       Ich bin in meiner Schulzeit in einer Theater-AG gelandet, um Freunde
       kennenzulernen. Und als es später um die Frage ging, was ich studieren
       wollte, fand meine Mutter, die wusste, Theater beschäftigt mich, eine
       Anzeige für den Studiengang in Gießen, der damals gerade aufgebaut wurde.
       Da dachte ich, ich bewerbe mich mal. Das war der erste Jahrgang.
       
       Das Studium hat Sie sehr geprägt? 
       
       Ein Kommilitone sagte mir mal: Was wir in Gießen eigentlich gelernt haben,
       ist die Chuzpe zu wissen: Was wir hier machen, das ist es.
       
       Hat es Ihrer Entwicklung auch geholfen, dass Sie aus Verhältnissen kommen,
       die nicht bildungsbürgerlich waren? 
       
       Ja. Ich musste meine Väter nicht killen. Ich hatte keinen so großen Respekt
       vor einem herrschenden Literatur- oder Theaterbegriff - das hat mich
       entlastet. Mehr Leute sollten weniger Respekt haben.
       
       Aber Sie haben großen Respekt vor den Philosophen, die Sie immer wieder
       anführen. 
       
       Ich habe vor allen möglichen Leuten Respekt, vor den Schauspielern, vor den
       Bühnenbildnern. Aber nicht vor dem Paternalismus und nicht vor
       Institutionen. Wir sind alle ein bisschen trotzfrigide.
       
       15 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Patricia Hecht
       
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