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       # taz.de -- Die Wahrheit: Kraft vom Fach
       
       > Der WAHRHEIT-REPORT beleuchtet heute das Treiben eines türkischen
       > Ex-Bademeisters, der sich hierzulande mit „Betreutes Wohnen Erdogan“
       > einen Traum verwirklicht hat.
       
   IMG Bild: Erdogan wird nachhaltig die deutsche Pflegelandschaft mit seinem revolutionären Konzept prägen
       
       Vor uns liegt ein idyllisches deutsches Waldgebiet. Wir verlassen die
       Landstraße und biegen in einen kleinen Weg ein. Ein Eichhörnchen sprintet
       hastig übers Moos, und dann taucht auch schon die Zufahrt zu einer
       gigantischen Neubauanlage auf. Ist das die zukünftige Heimat meiner Tante?
       Tante Claudia ist WG-erfahren und war schon beim Osho in Poona. Jetzt sucht
       sie was Neues. Im Hintergrund drehen sich noch ein paar Baukräne. Ein
       großes rotes Schild heißt den Besucher willkommen: „Betreutes Wohnen
       Erdogan“. Das gelbe „O“ ist eine lachende Sonne wie aus der alten
       35-Stunden-Woche-Gewerkschaftswerbung. Plötzlich geht eine Schranke hoch
       und erlaubt uns die Einfahrt.
       
       Erlesene Teppiche, gedämpftes Licht, der Duft von Schwarztee und
       Alpina-Farbe liegt in der Luft. Herr Erdogan stapft in Adiletten und
       Jogginghose in die Lobby und begrüßt uns höchstpersönlich. Erdogan ist ein
       stattlicher älterer Herr mit straffen Schultern, einem kecken Bärtchen und
       einem verdammt schmerzhaften Händedruck wie weiland Raimund Harmstorf, der
       alte Kartoffelzerdrücker. „Meine gute Freundin“, legt er los. „Wie freue
       ich mich, dass Sie und Ihre liebe Tante Claudia den Weg in unser schönes
       geliebtes ’Betreutes Wohnen Erdogan‘ gefunden haben. ’Das Haus des
       Freundes, das sind die Herzen‘, wie unser großer Sohn Johann Wolfgang
       Goethe einst schrieb. Oder war es gleich der alte Meister Yunus Emre?“,
       gibt Erdogan sich aufgeräumt.
       
       Herr Erdogan hat sich mit „Betreutes Wohnen Erdogan“ einen Traum erfüllt.
       „Sehen Sie sich mit Ihrer Tante ruhig um.“ Einst war Erdogan in der Türkei
       ein mächtiger Mann. Ihm gehörte die landesweit größte und mordernste
       Supermarktkette. „Alle Filialen verfügten über eine Frischfleischtheke, ein
       Nagelstudio und eine Moschee. Was braucht man mehr?“ Dann füllen sich seine
       Augen plötzlich mit Tränen. „Irgendwann nörgelte die Kundschaft und sagte:
       ’Günni, deine Tomaten sind uns zu teuer.‘“ Das war der Anfang vom Ende von
       Günnis Supermarktkette.
       
       Eine Zeit lang schlug er sich als Bademeister in Istanbul durch. Erdogan
       denkt gern an diese Zeit zurück, er sei auch in diesem Job „ziemlich
       erfolgreich“ gewesen, erinnert er sich. „Vom Beckenrand springen gab’s bei
       mir nicht.“ Badekappen für weibliche Gäste wurden Pflicht, aber als Erdogan
       eines Tages kurzerhand das Becken teilte und eine Sonderbadezone für Frauen
       einrichtete, wurde es der Schwimmbadleitung zu bunt. Sie ersetzte Erdogan
       durch einen Jüngeren. „Hakan aus Hamburg. Hatte Oberarme wie Wassermelonen
       und war am Pool der Liebling der Girls“, sagt er verbittert.
       
       In der Hürriyet las der Arbeitslose vom Fachkräftemangel in Deutschland.
       „Ich hatte immer ein Faible für die Deutschen. Denken Sie nur an Hegel und
       Kant“, schwärmt Erdogan. Über das Förderprogramm „Die Kraft vom Fach“
       (DKvF) kam er nach Deutschland und arbeitete zunächst als leitender Kellner
       in einem Gasthof im Brandenburgischen. Herr Erdogan setzte im Schankraum
       zahlreiche Verbesserungen um, richtete eine Frauentheke, eine Gastzone
       extra nur für Ehepaare und eine Gebets-Lounge ein. Und das Beste: „Ab zehn
       gab’s nur noch schwarzen Tee.“ Der Hotel- und Gaststättenverband war
       begeistert und honorierte sein Konzept mit dem mit 80.000 Euro dotierten
       Service-Innovations-Preis.
       
       Damit war nicht nur das Grundkapital für „Betreutes Wohnen Erdogan“
       vorhanden. Herr Erdogan wusste nun auch, dass seine Geschäftsidee
       funktionieren würde. „Ultra inclusive. Die Leute wollen strammen Service“,
       erklärt er das Konzept seiner Wohnanlage. Gemeinsam mit seiner Frau Emma
       kümmert er sich intensiv um seine Bewohner. Das geht schon morgens um fünf
       Uhr los. Erdogan weckt jeden Gast höchstpersönlich und steht pünktlich mit
       Börek und Ayran neben dem Bett.
       
       Ein straffes Programm erwartet die Frühaufsteher. „Bauchtanz für Ehepaare
       mit Günni und Emma“ ist ein obligatorischer Kurs, der pünktlich um 6.30 Uhr
       beginnt. Makramee mit Emma ist nur für unverheiratete Frauen. Figuren aus
       Salzteig werden um 11 Uhr von verheirateten Männern ab 55 geknetet.
       Feldarbeit bis 19.30 Uhr mit anschließenden Gebet ist für alle verbindlich.
       
       „Das ist das, was ich schon immer machen wollte“, sagt Erdogan. „Menschen
       Vorschriften machen und rumkommandieren.“
       
       12 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anne Kreby
       
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